Der Gnade auf der Spur 15

Gerecht oder gnädig – was ist dir lieber?


Gnade kannst du dir nicht verdienen. Sie gibt es nur in Gottes Geschenkabteilung.

Schon vor sechs Uhr morgens hatten sich einige Männer beim Kiosk am Rande der Stadt eingefunden. Hier kamen die zusammen, die sich mit Gelegenheitsjobs ein paar Euro dazuverdienen wollten. Sie standen in Grüppchen zusammen, schlürften ihren Kaffee und unterhielten sich.
Da fuhr Willi auf den Parkplatz.
Willi hatte vor Kurzem ein großes, brachliegendes und von Unkraut überwuchertes Stück Land erworben. Dort wollte er seinen Traum von einer Gärtnerei verwirklichen. Die alten Gebäude waren mit Efeu bedeckt. Und Brennnesseln wuchsen, wo man auch hinschaute.
Fünf Männern bot er je 200 Euro für zwölf Stunden Arbeit an. Kurze Zeit später legten sie, mit Handschuhen und Werkzeug ausgerüstet, los. Willi ernannte den Ältesten der fünf zum Vorarbeiter und übertrug ihm die Verantwortung, bevor er sich wieder auf den Weg machte, um noch ein paar Dinge zu erledigen.
Nach drei Stunden kehrte Willi mit einigen Kisten mit Wasser zurück. Er bemerkte einen eindrucksvollen Abfallhaufen am Straßenrand, konnte aber kaum ausmachen, wo die Männer gearbeitet hatten. Er brauchte wohl doch mehr Leute, als er gedacht hatte. Also stellte er das Wasser in den Schatten unter einen Baum und fuhr noch einmal zu dem Kiosk zurück.
Er holte noch mal fünf Leute für die Arbeit, bevor er zu einer Besprechung mit dem Bürgermeister fuhr. Als er mittags zu seinem Besitz zurückkehrte, stellte er weitere fünf Arbeiter ein, und um drei Uhr noch einmal dieselbe Anzahl. Auch wenn nun zwanzig Männer dabei waren, das Land urbar zu machen, befürchtete Willi, dass er hinter seinem Zeitplan zurückbleiben würde. Um fünf Uhr abends holte er daher noch fünf Männer dazu.
Um sechs Uhr kam Willi zu der Erkenntnis: Er braucht schweres Gerät, um das Land nutzbar zu machen.
Er holte ein Bündel 100-Euro-Scheine aus dem Auto. Den Vorarbeiter wies er an: „Zahl die Leute aus und fange mit denen an, die zuletzt gekommen sind.“
Der Vorarbeiter ließ einen gellenden Pfiff ertönen und winkte die Männer heran. Sie stellten sich in einer Reihe auf, um ihren Lohn zu empfangen. Die Arbeiter, die erst um fünf Uhr nachmittags gekommen waren, konnten es kaum glauben, dass sie für eine Stunde Arbeit zwei Hunderteuro-Scheine in die Hand gedrückt bekamen.
Alle waren tief beeindruckt, wie großzügig Willi war. Die, die am Ende der Schlange standen, fingen schon an zu rechnen. Ihr Lächeln erstarb allerdings in dem Augenblick, als der Vorarbeiter auch jedem von ihnen zwei Hunderteuroscheine gab.
„Moment mal“, knurrte einer der Arbeiter, „Soll das ein Scherz sein?“
Willi bemerkte die Unruhe und fragte: „Worum geht’s?“.
„Wir haben zwölf Stunden geschuftet! Die da haben das Gleiche für eine Stunde Arbeit bekommen.“
Willi blickte einen Moment lang zu Boden und sah dann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. „Haben wir uns nicht auf zweihundert Euro als Tageslohn geeinigt?“
„Ja, schon, aber …“
„Und hast du dein Geld bekommen?“, fragte Willi.
„Ja, schon, aber …“
Willi unterbrach den Man: „Dann sind wir doch quitt. Oder gibt es irgendeine Regel, die mir verbietet, soviel zu geben, wie ich möchte?“
Wenn du in der Versuchung stehst, Partei für die zu ergreifen, die den ganzen Tag gearbeitet haben, bist du nicht allein.
Diese leicht verfremdete Geschichte stammt von Jesus. Sie fordert Bibelleser nun schon seit bald zweitausend Jahren heraus. Gottes Lohntabelle verletzt unseren Gerechtigkeitssinn. Uns stört Gottes »ungeheuerliche Gnadenmathematik«. Jesus sagte dazu:
Die neue Wirklichkeit, die Gott in die Welt hineinbringt, ist wie ein Mann, dem eine große Weinpflanzung gehörte.
Matthäus 20,1; Das Buch, 2022
Und diese Geschichte zeigt, Gottes Herrschaftsbereich ist ungerecht. Zumindest, wenn wir unsere Maßstäbe zugrunde legen.
Die Sache mit der Gerechtigkeit ist nicht ganz einfach. Mir ist Folgendes aufgefallen:
Ich beschwere mich nur dann über ungerechte Behandlung, wenn ich benachteiligt werde.
Wenn ich bevorzugt werde, bezeichne ich das als Gebetserhörung.
Wenn du von etwas Gutem einen größeren Anteil bekommst als dein Mitmensch, lehnst du dann dankend ab? Sagst du dann: »Das ist unfair! Mein Stück ist größer als deins!«?
Wenn es um Gerechtigkeit geht, ist unsere Wahrnehmung getrübt. Glücklicherweise gründet sich Gottes Regentschaft nicht auf dem Prinzip der Gerechtigkeit. Zumindest nicht auf Gerechtigkeit, wie wir sie verstehen.
Und um ehrlich zu sein, wenn »gerecht« bedeutet, dass ich bekomme, was ich verdiene, will ich lieber keine Gerechtigkeit. Stattdessen wünsche ich mir Gnade.
Gottes Handeln ist nicht gerecht in dem Sinn, dass jeder das bekommt, was er verdient. Gott zeigt seine Gerechtigkeit, indem er Menschen Gnade und Barmherzigkeit erweist.
Ein Gleichnis über die Gerechtigkeit in Gottes Herrschaftsgebiet ist eine Sache. Wie dieses ungewöhnliche Wertesystem im wirklichen Leben der Jesusnachfolger Gestalt gewinnt, dagegen eine völlig andere.
Wenn du mit dem Neuen Testament vertraut bist, hast du vermutlich schon einmal von Stephanus, dem ersten christlichen Märtyrer gehört.
Die überwiegende Mehrheit der ersten Christen waren Juden. Sie trafen sich bei sich zu Hause zu gemeinsamen Mahlzeiten und zum Gebet. Man betrachtete sich als Familie und waren miteinander wie Bruder und Schwester. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Lukas schreibt:
In dieser Zeit, als die Zahl der Nachfolger von Jesus immer größer wurde, äußerten die, die in ihrer Kultur und Sprache griechisch geprägt waren, ihre Unzufriedenheit gegenüber denen, die von Kultur und Sprache her Hebräer waren. Denn in der täglichen Verteilung der Lebensmittel wurden die Witwen in ihrer Gruppe immer wieder übersehen.
Apostelgeschichte 6,1; Das Buch, 2022
In der ersten Auseinandersetzung der Kirchengeschichte ging es ums Essen.
Die Apostel forderten die Gemeinde auf, sieben geeignete Männer zu wählen, die die Verteilung der Nahrungsmittel übernehmen sollten. Stephanus wird zuerst benannt. Er war nicht von Geburt an Jude, sondern später übergetreten. Dann kam er zum Glauben an Jesus, den Messias. Von allen Seiten wurde ihm in der Gemeinde Vertrauen entgegengebracht.
Der Opposition aus dem Judentum war er ein Dorn im Auge. Stephanus konnte brillant argumentieren und er war ein exzellenter Kenner der »Heiligen Schriften«.
Doch sie waren der Weisheit, mit der Stephanus redete, und dem Geist, der aus ihm sprach, nicht gewachsen.
Apostelgeschichte 6,10; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Weil die Feinde der Gemeinde ihn nicht mit den Waffen des Verstandes schlagen konnten, griffen sie zum Verrat. Stephanus wurde bezichtigt, Mose gelästert zu haben. Man klagte ihn formell beim jüdischen Gerichtshof, dem Sanhedrin, an. Es wurden falsche Zeugen bezahlt, die bereit waren, einen Meineid zu schwören:
Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das Gesetz zu reden. Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat.
Apostelgeschichte 6,13-14; Einheitsübersetzung, 2016
Angesichts der Macht des Sanhedrins hätten die meisten Menschen ihren Mut verloren. Es handelte sich um dasselbe religiöse, politische Organ, das Jesus verurteilt und die Römer überzeugt hatte, ihn zu kreuzigen.
Stephanus stellte unbeirrt seinen Standpunkt klar dar. Mit bestechender Logik zeigte er, dass ein Mensch zum Götzendiener wird, wenn er Jesus ablehnt und sich stattdessen an das Gesetz hält. Und dann sagte er:
Ihr seid unbelehrbar und eure Herzen und Ohren sind unempfänglich für Gott! Unablässig widersetzt ihr euch dem heiligen Gottesgeist! Ihr macht es genauso wie eure Vorfahren! Gibt es einen einzigen unter den Propheten, den eure Vorfahren nicht verfolgt haben? Sie haben diejenigen getötet, die schon vorher das Kommen dessen angekündigt haben, der durch und durch gerecht ist. Und jetzt seid ihr es gewesen, die ihn ausgeliefert und umgebracht haben! Ihr habt doch das Gottesgesetz aus der Hand von Engeln entgegengenommen und habt es doch nicht ernst genommen.
Apostelgeschichte 7,51-53; Das Buch, 2022
Die einflussreichen, seriösen, ehrenwerten, religiösen Würdenträger verwandelten sich plötzlich in einen wütenden Mob. Sie ergriffen Stephanus, schleppten ihn vor die Stadt und steinigten ihn. Im Sterben rief Stephanus:
»Herr, vergib ihnen diese Schuld!«
Apostelgeschichte 7,60; Hoffnung für alle, 2015
Er war der erste Märtyrer der jungen Gemeinde.
»Shaul«, der später als Apostel Paulus bekannt wurde, stand in krassem Gegensatz dazu. Von seiner Zeit vor seiner Bekehrung sagt er:
Hier ist die Liste meiner Qualitäten: Ich bin der Vorschrift gemäß am achten Lebenstag beschnitten worden. Ich stamme aus dem Volk Israel, genauer gesagt, aus dem Stamm Benjamin. Ich bin ein echter Hebräer, ein Nachfahre von echten Hebräern. Was die Auslegung des Gottesgesetzes betrifft, so gehöre ich zur Richtung der Pharisäer.
Wenn es um mein Engagement geht: Ich habe die christliche Gemeinde aktiv verfolgt! Wenn es um die Erfüllung aller Anforderungen nach dem Gesetzbuch geht, dann bin ich da auch völlig unanfechtbar.
Philipper 3,5-6; Das Buch, 2022
Nach dem jüdischen Maßstab gehörte Paulus zu den Besten. Trotzdem machten seine Liebe zum Gesetz, sein vermeintlicher Dienst für Gott und die Leidenschaft seiner Überzeugungen ihn zum Mörder. Freimütig bekannte er:
Ihr habt ja gehört, wie ich früher für die jüdische Religion gelebt habe und wie unbarmherzig ich die Gemeinde Gottes verfolgte und sie mit aller Macht zu vernichten suchte. In meinem Judaismus übertraf ich viele meiner Altersgenossen. Ich eiferte fanatisch für die Überlieferungen meiner Väter.
Galater 1,13-14; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Shaul war mit dabei, als Stephanus gesteinigt worden ist. Viele Jahre später schrieb er einem Mitarbeiter:
Ich danke dem Messias Jesus, unserem Herrn, der mir Kraft gibt, dass er mich für zuverlässig erachtet hat und mir diese Aufgabe anvertraut hat. Denn früher war ich ein Lästerer und Christenverfolger, ja, ein mutwilliger, gewalttätiger Gottesfeind. Aber dann habe ich Gottes Barmherzigkeit erfahren.
1. Timotheus 1,12-13; Das Buch, 2022
Eine direkte Begegnung mit Jesus brachte ihn zu der Erkenntnis, dass alles, was er für »gute Taten« hielt, in Wirklichkeit schreckliche Sünden waren. Shaul gab den Versuch auf, seiner eigenen Gerechtigkeit zu vertrauen, und empfing Gottes Gnade und Vergebung. Er nahm Jesus als Messias und Erretter an und schloss sich den Christen an, die er bisher verfolgt hatte.
Shaul bekam den Auftrag, den Heiden die Botschaft von Gottes Gnade zu bringen. Von da an nannte er sich mit der lateinischen Form seines Namens: Paulus. Fünfzehn Jahre lang reiste er durch die Osthälfte des Römischen Reichs, predigte, lehrte, gründete Gemeinden und schrieb fast ein Drittel dessen, was einmal das »Neue Testament« werden sollte. Er nahm Schwierigkeiten auf sich, um das Evangelium zu verbreiten. Er wurde verfolgt, verleumdet, gesteinigt, gegeißelt und eingesperrt, alles im Dienst für Jesus. Vor seinem Märtyrertod in Rom trug Paulus mehr als jeder andere Mensch im ersten Jahrhundert dazu bei, das Evangelium zu verbreiten.
Doch noch bevor Stephanus oder Paulus auf der Bildfläche erschienen, gab es einen anderen Mann, dessen Glaube an Jesus ihn in gewisser Hinsicht berühmt machte.
Er war kein Glaubensheld, und doch erzählt man sich seine Geschichte überall, wo das Evangelium gepredigt wird. Sein Name ist uns nicht überliefert worden. Aber wir wissen ein bisschen über seine Persönlichkeit, und die war offenbar ziemlich ausgeprägt. Über seine Vergangenheit ist uns kaum etwas bekannt, außer der Tatsache, dass er als Verbrecher hingerichtet wird.
Wir lernen ihn in seinen letzten Lebensstunden kennen: Er hing an einem Kreuz, direkt neben Jesus. Die Tatsache, dass er uns als Krimineller und nicht als Zelot oder Sklave vorgestellt wird, deutet auf ein so schreckliches Verbrechen hin, dass man ihm nicht einmal die Aufgabe anvertrauen wollte, Ruderer auf einer römischen Galeere zu werden. Die Römer opferten einen potenziellen Ruderer nur dann, wenn er außergewöhnlich gewalttätig oder nicht zu bändigen war. Das war das Wesen dieses Mannes.
Lukas schildert diese Szene so:
Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung geführt. Sie kamen an den Ort, der Schädelhöhe heißt; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links.
Lukas 23,32-33; Einheitsübersetzung, 2016
Und das Volk stand dabei und sah zu. Und auch die vornehmen Leute spotteten: Andere hat er gerettet, er rette jetzt sich selbst, wenn er doch der Gesalbte Gottes ist, der Auserwählte.
Lukas 32,35; Zürcher Bibel, 2007
Auch die Soldaten verspotteten Jesus. … »Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich doch selbst!«
Lukas 23,36-37; Das Buch, 2022
Einer der beiden Verbrecher höhnte: „Bist du nicht der Messias? Dann hilf dir selbst und uns!“
Lukas 23,39; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Ganz unerwartet stellte sich jemand auf Jesus’ Seite. Jemand, von dem man es nicht erwartet hätte. Der andere Verbrecher.
Schon seltsam, wenn man darüber nachdenkt. Von allen Anwesenden war er der Einzige, der Jesus verteidigte.
Den Strom von Flüchen und Beschimpfungen unterbrach er mit einer Frage und einem Bekenntnis:
»Fürchtest du Gott auch jetzt noch nicht, wo du doch ebenso schlimm bestraft worden bist wie dieser Mann und wie ich?«.
»Dabei werden wir zu Recht bestraft; wir bekommen den Lohn für das, was wir getan haben. Er aber hat nichts Unrechtes getan.«
Lukas 23,40-41; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Dieser Verbrecher glaubte eindeutig an Gott. Er erkannte seine eigene Schuld und räumte ein, dass er den Tod verdient hat. Im nächsten Leben hatte er nichts Gutes zu erwarten, darüber machte er sich keine Illusionen. Wenn es ein Leben nach dem Tod gab, dann konnte er sich nicht darauf freuen.
Seine einzige Hoffnung – wenn es denn überhaupt eine Hoffnung gab – lag in dem, was er am wenigsten verdient hatte: Barmherzigkeit und Gnade. Verzweifelt bat er seinen Nachbarn am Kreuz:
»Jesus, denk an mich, wenn du deine Königsherrschaft antrittst!«
Lukas 23,42; Das Buch, 2022
Hast du dir bei diesen Ereignissen auf Golgatha bewusst gemacht: Wenn ewiges Leben nur den guten Menschen vorbehalten wäre, hätte dieser Mann keine Chance gehabt? Wenn ein Mensch, der am Kreuz hängt, Reue zeigt, ist das bedeutungslos. Seinem Leben eine neue Richtung zu geben, wenn man nur noch zwei Stunden zu leben hat, zählt nicht. Nichts konnte er mehr versprechen. Nichts hatte er anzubieten. Seine Verbrechen konnte er nicht wiedergutmachen. Er hatte nichts in der Hand, mit dem er handeln konnte. Das Kreuz hatte er verdient. Verdient hatte er auch, in alle Ewigkeit von allem getrennt zu sein, was gut war. Er war auf dem besten Weg, genau das zu bekommen, was er verdient hatte.
Aber Jesus unterbrach den gewohnten Lauf der Dinge. Er griff in das Schicksal dieses Mannes ein. Er entschloss sich, verschwenderisch unfair zu sein.
Jesus antwortete ihm:
Lukas 23,43; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Wie bitte? Jesus antwortete ihm?
Ich liebe diese drei Wörter.
Warum sich die Mühe machen? Warum diesen Verbrecher überhaupt zur Kenntnis nehmen? Jedes Wort, das Jesus am Kreuz sprach, kostete ihn körperlich viel Kraft. Jeder Atemzug verursachte unvorstellbare Schmerzen, wenn er sich an den durchbohrten Handgelenken hochzog und wieder sinken ließ. Doch Jesus antwortet ihm trotzdem:
»Ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.«
Lukas 23,43; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Nur zum Verständnis: Paradies meint nicht Himmel, sondern ist im jüdischen Denken der Ort, an dem die toten Gerechten auf die Auferstehung warten.
Jesus, der Mensch gewordene Gott, die Vollkommenheit in Person, ein wahrer Heiliger, versprach einem Mann, der in allem das genaue Gegenteil war: »Wo ich hingehe, gehst du auch hin.« Wie konnte das sein? Jesus versprach einem Mann, der sich sozusagen 2 Sekunden vor zwölf bekehrt hatte, die gleiche Belohnung wie Stephanus.
Das ist nicht gerecht. Stephanus wurde ermordet, weil er rechtschaffen war. Dieser Mann hingegen wurde für seine Verbrechen bestraft.
Einige Jahre später sollte ihnen der Apostel Paulus folgen. Man hat ihn eingekerkert und enthauptet. Er hat Schiffbruch erlitten. Er wurde von einer Schlange gebissen, geschlagen und schließlich geköpft, weil er unermüdlich bestrebt war, die Botschaft von Gottes Gnade, die in Jesus greifbar geworden war, in der gesamten damals bekannten Welt zu verkündigen.
Warum sollte einem namenlosen Verbrecher zusammen mit Stephanus und Paulus der Zugang zu Gottes Reich gewährt werden? Das ist wirklich nicht gerecht.
Im Grunde ist es viel mehr als gerecht. Es ist Gnade.
Ich frage mich, warum sich manche Leute so gegen das Evangelium sträuben?
Mir ist klar, dass es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder verzerrt wurde.
Manche Christen sind auch keine guten Botschafter für das Evangelium der Gnade.
Aber wenn man auf Gottes Angebot der Gnade stößt, ist es doch viel zu gut, um es einfach abzulehnen.
Warum sollte sich jemand für ein religiöses System entscheiden, das auf Leistung beruht? Wer glaubt wirklich von sich, er sei gut genug, um sich den Himmel zu verdienen? Aufgrund welcher Normen soll man sich ewiges Leben verdienen können? Es gibt ja keinen einheitlichen, weltweit anerkannten Verhaltensmaßstab, nach dem man sich richten könnte. Wie kann ich wissen, ob meine Leistung bei Gott reicht?
Christen, Juden, Muslime, Hindus … sie alle kennen die »Goldene Regel« in der einen oder anderen Fassung: »Behandele andere so, wie du selbst behandelt werden willst«. Das ist ein ziemlich hoher Maßstab, wenn man konsequent danach handeln will.
Reicht eine Quote von siebzig Prozent aus, um Gottes Gunst zu erlangen? Schaffe ich es vielleicht auch noch mit sechzig Prozent? Und in der Familie? Genügen im Umgang mit meinen Angehörigen ein paar Prozentpunkte weniger? Wenn Gott nach guten Menschen Ausschau hält, müssen wir wissen, was eigentlich gut ist. Wir brauchen eine Skala, eine Tabelle, ab wann man bestanden hat und unter welcher Punktzahl man durchfällt.
Wir werden unseren eigenen Erwartungen nicht gerecht. Jeder von uns musste schon einmal sagen: »Tut mir leid«, oder: »Das war falsch von mir«. Wenn wir versagen, treibt uns irgendetwas in unserem Innern an, unser Versagen wiedergutzumachen, indem wir uns besser verhalten, großzügiger sind oder Versprechen abgeben.
Zwar können wir uns für die Zukunft mehr Mühe geben, doch an der Vergangenheit können wir nichts mehr ändern. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und bessere Eltern sein, ein besserer Partner. Wir können nicht zurückgehen und Lügen, Betrug und Süchte ungeschehen machen. Selbst wenn wir heute vollkommen sein sollten, können wir die Vergangenheit nicht auslöschen.
Genau das macht die Gnade so stark und mächtig.
Jesus kam in diese Welt und tat das, was niemand sonst tun konnte. Er bekräftigte die Liste der Verhaltensregeln. Er erklärte, dass Gottes Gesetz gut sei. Er machte klar, dass kein Mensch durch das Gesetz heilig wird. Und er bot sich selbst als Antwort auf die Frage an: »Was kann ich tun, wenn ich alles vermasselt habe?«
Die Antwort heißt »Vertrauen«.
Jesus’ Tod und seine Auferstehung signalisierten der Welt, dass Gottes Reich nicht den guten Menschen vorbehalten ist. Es ist für die Menschen gedacht, die in Gottes Gnade eintauchen. Das können gute Menschen sein, ziemlich gute Menschen, nicht sonderlich gute Menschen und Menschen wie der Verbrecher am Kreuz.
Wer sich unter Gottes Gnade stellt, ist Gottes Gerechtigkeit.
Das Evangelium ist im Grund das gerechteste System, das man sich vorstellen kann. Denke einmal darüber nach:
Jeder ist eingeladen.
Jeder kommt durch die gleiche Tür hinein.
Für jeden gilt die absolut gleiche Bedingung.
Jeder ist eingeladen. Juda wurde ebenso eingeladen wie Rahab, David und Nikodemus.
Jeder kommt durch die gleiche Tür hinein – Jesus sagte: „Ich bin die Tür.“ Mit seinem Tod machte er für jeden den Weg zum Vater frei.
Jeder kann die Bedingung erfüllen, nämlich Jesus zu vertrauen.
Durch sein Vertrauen stand Abraham vor Gott gerecht da. An ihrem Vertrauen lag es, dass die Frau aus Sychar zu einer Quelle des ewigen Lebens wurde.
Gottes Gerechtigkeit hatte ihren Preis. Jesus litt und starb. Aber er ist wieder auferstanden. Er hat die Tür zu Gottes Reich so weit aufgestoßen, dass alle guten und nicht so guten Menschen eintreten können.
Diese Gnade hat etwas gekostet. Doch nicht wir mussten den Preis aufbringen. Jesus gab Gott die Möglichkeit, den Glaubenshelden dieser Welt und allen, die sich in letzter Minute bekehren, dieselbe ewige Heimat zu bieten.
Jesus’ Tod am Kreuz hat auch dir und mir Gottes Reich geöffnet. Ist das gerecht?

Nein. Es ist viel mehr als gerecht. Es ist Gnade.