Der Gnade auf der Spur 1

Der Anfang war Gnade!
Das Wort »Gnade« kommt in der Lutherbibel 315 Mal vor.
Im »Alten Testament« 38 Mal und im »Neuen Testament« 277 Mal.
Aber auch wenn das Wort im »Alten Testament« nicht so häufig vorkommt, ist es nicht »gnadenlos«.
Was ist das Besondere an Gnade?
Wir hoffen auf Gnade, wenn unser Versagen ans Licht kommt. Wenn uns Gnade entgegengebracht wird, befreit uns das. Wenn uns jemand um Gnade bittet, verstört uns das oft. Wir sind zurückhaltend mit der Gnade, wenn jemand an uns schuldig geworden ist.
Wer meint, sie/er verdiene Gnade, widerspricht sich selbst. Gnade kann man sich ebenso wenig verdienen, wie eine Überraschungsparty für sich selbst organisieren. Man kann um Gnade betteln. Man kann auf Gnade hoffen. Doch in dem Augenblick, in dem man davon ausgeht, man hätte sie verdient, ist es keine Gnade mehr.
In den Evangelien fällt auf, dass Jesus einen erbitterten Gegner hatte: Eine gnadenlose Religion. Und die Menschen, mit denen er zusammenstieß, waren die gnadenlosen – sich aber fromm gebenden – Führer dieser gnadenlosen Religion.
Gottes Gnade wird durch Jesus Tod sichtbar gemacht. Die Leute, die Jesus dem Tod auslieferten, sahen sich als die religiöse Elite, die von sich behauptete, Gott zu kennen. Aber seine Gnade war ihnen völlig fremd. Von Jesus wird berichtet:
Er, das Wort, wurde Mensch …, erfüllt mit Gnade und Wahrheit.
Johannes 1,14; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Und der Jünger bezeugt:
Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.
Johannes 1,16; Einheitsübersetzung, 2016
Gnade zeigt sich in Gottes Wohlwollen, seiner Güte und seiner Gunst, die er uns schenkt, damit wir an seinem göttlichen Leben teilhaben können. Gott ist Liebe, und göttliche Liebe, die uns auf Augenhöhe begegnet, heißt Gnade.
Wir erkennen nirgendwo klarer und deutlicher, wie Gnade in einer ansonsten gnadenlosen Welt aussieht, als bei Jesus.
Wir haben Gnade, wie Jesus sie uns gebracht hat, gründlich missverstanden, wenn sich in uns das neidische Gefühl regt, dass Gnade es Menschen möglich zu machen scheint, sich ohne Konsequenzen durch ein gottloses Leben in Gottes Reich zu mogeln. Gnade ist kein Weichspüler für die Sünde. Gnade sieht die Sünde in ihrer vollen Tragweite. Aber Gnade stellt sich auf die Seite des Sünders.
Dieses Konzept durchzieht die Bibel. Von Anfang an war die Beziehung des Schöpfers zum Geschöpf auf Gnade gegründet.
Und ganz am Anfang beginne ich.
Die Bibel beginnt mit der Schilderung, wie die Welt entstanden ist. Das ist zunächst eine Botschaft an Jakobs Nachkommen, mit denen Gott etwas Besonderes vorhatte.
Diese Leute waren über vierhundert Jahre der ägyptischen Mythologie und Vielgötterei ausgesetzt gewesen. Das hat wohl alle Erinnerungen an den Gott ihres Stammvaters Abraham ausgelöscht. Diesem Volk stellt sich Gott als Schöpfer vor, der systematisch Ordnung auf eine »öde und wüste« Erde brachte.
Er trennte den Himmel von der Erde ab, schied das trockene Land vom Wasser, den Tag von der Nacht. Er setzte Sonne, Mond, Planeten und Sterne an den Himmel, um die Zeit zu messen. Er füllte die Erde mit Leben – unendlich vielfältig, grenzenlos, belastbar und fein durchdacht.
Und nach jedem Schöpfungsabschnitt finden wir eine kleine Aussage:
Gott betrachtete sein Werk: Es war gut.
1. Mose 1,10. 12. 18. 21. 25; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Was Gott geschaffen hat, war gut – gut für den Menschen.
Dann – nachdem alles fertig war. Dann – nachdem das Bühnenbild aufgebaut war. Dann – als Gott alles so gemacht hatte, wie es sein sollte.
Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als Abbild von uns, uns ähnlich. … Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bild, er schuf ihn als sein Ebenbild, als Mann und Frau schuf er sie.
1. Mose 1,26-27; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Und was machte er mit dem Menschenpaar? Er sagte ihnen, dass sie es sich gut gehen lassen sollten. Alles, was er geschaffen hatte, hatte er für sie gemacht.
Weiter sagte Gott: »Als Nahrung gebe ich euch alle samentragenden Pflanzen auf der Erde sowie die Früchte aller Bäume. Die Landtiere, Vögel und Kriechtiere dagegen – also alle Tiere, die Lebensatem in sich tragen – sollen sich von Blättern und Halmen ernähren.« So geschah es.
1. Mose 1,29-30; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Er erschuf eine Welt, die ein perfekter Lebensraum für die Menschen war. Was hat der Mensch getan, um diese unglaubliche Fülle zu verdienen? Nichts. Absolut nichts. Alles war Gottes Gunst.
Gnade ist niemals gerade genug. Gnade ist immer viel mehr als genug. So vieles war nach Gottes Aussage gut, doch eine Sache gefiel ihm nicht:
Dann sagte Jahwe-Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch so allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm genau entspricht.
1. Mose 2,18; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Schon am Anfang der Geschichte wird Gottes unendliche Liebe zu den Menschen ins Blickfeld gerückt. Warum hat er die Frau erschaffen? Weil es nicht gut für den Menschen ist, allein zu sein. Von Anbeginn der Schöpfung sehen wir, dass Gott für uns nur das im Sinn hat, was gut für uns ist.
Das ist Gnade. Unverdiente Gunst. Gott wollte und will für uns nur das, was gut für uns ist. Gut für dich.
Gott beschenkt Adam und Eva mit allem, was sie zum Leben und Gedeihen brauchten, und zwar überreichlich. Er ermutigt sie, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Die Erde füllte er mit einer verschwenderischen Fülle, damit sie nicht nur das Nötigste zu essen hatten, sondern sich am Überfluss erfreuen konnten.
Und er gab ihnen noch etwas: eine Aufgabe. Gott führte Adam und Eva zu einem besonders üppig bewachsenen Fleckchen der gerade erschaffenen Welt, in den berühmten Garten. Dort machte er zwei bemerkenswerte Dinge, etwas, das er für kein anderes Geschöpf getan hatte.
Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie untertan, und herrscht über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen.
1. Mose 1,28; Zürcher Bibel, 2007
Gott erschuf die Welt, füllte sie mit guten Dingen und verschenkte sie dann. Er übergab den Menschen die Schlüssel und einen Sinn und ein Ziel für ihr Leben. Er ernannte sie zu Vizeregenten über seine gesamte Schöpfung, im Rang direkt unter ihm stehend.
Er stattete sie mit Autorität aus und übertrug ihnen die Verantwortung für die Erde. Sie sollten die Ordnung, die er der Welt gegeben hatte, aufrechterhalten und ausweiten. Eine große Aufgabe. Aber Gott drückte ihnen dazu kein hunderte Seiten dickes Buch mit »Ausführungsbestimmung« in die Hand.
Es gab nur eine einzige Einschränkung:
Jahwe-Gott brachte also den Menschen in den Garten Eden, damit er diesen bearbeite und beschütze, und wies ihn an: „Von allen Bäumen im Garten darfst du nach Belieben essen, nur nicht von dem Baum, der dich Gut und Böse erkennen lässt. Sobald du davon isst, wirst du sterben müssen.“
1. Mose 2,15-17; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Erlaubte Bäume im Überfluss — nur ein verbotener. Ist das nicht interessant? Die Geschichte der Menschheit beginnt mit einer Menge übertragener Verantwortung und nur einer einzigen Regel.
Als Gott die Welt genau so gemacht hatte, wie er sie wollte und sie optimal für den Menschen hergerichtet war, gab es nur ein einziges Gebot.
Es gibt einen scheinbar unwichtigen, aber dennoch bedeutsamen Aspekt im Beginn der Menschheitsgeschichte.
Am Anfang gab es keine Schuld.
Am Anfang wurde niemand verurteilt.
Am Anfang gingen die beiden ersten Menschen nicht mit der bangen Frage zu Bett, ob sie Gott gefallen haben und ob alles in Ordnung ist.
Am Anfang gab es mehr Schönheit, als der Mensch in sich aufnehmen konnte.
Am Anfang gab es mehr Nahrung, als man verbrauchen konnte.
Am Anfang hatte das Leben einen Sinn.
Am Anfang gab es Nähe und Intimität ohne Intrigen und Misstrauen.
Am Anfang gab es vollkommene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch.
Und, am Anfang gab es Freiheit. Entscheidungsfreiheit.
Gott erwies den Menschen seine große Gnade, doch seine Anforderungen waren nur minimal.
Ich bin überzeugt, dass wir schon ganz am Anfang Gott als den begreifen sollen, der er ist: ein Gott, dessen bedeutendste Charakterzüge Liebe und Gnade sind.
Und da müssen wir uns eines bewusst machen:
Genauso wenig wie Gott verpflichtet war, die Menschen mit Gnade und Liebe zu beschenken, war der Mensch gezwungen, Gottes Liebe anzunehmen und zu erwidern.
Gnade stellt keine Bedingungen, denn dann wäre es keine Gnade mehr.
Eng verbunden mit der Gnade ist das Vertrauen. Gott vertraute den Menschen seine Schöpfung an und hoffte, dass sie ihm vertrauen. Jeden Tag neu mussten Adam und Eva sich entscheiden, ob sie diese Verantwortung in Gottes Sinn ausüben wollen. Eine Weile ging das gut. Wie lange, wissen wir nicht. Wir wissen jedoch, dass der Mensch irgendwann Gott nicht mehr vertraute und sich alles änderte. Wirklich alles.
Wenn Gottes Gnade uns nicht im Innersten berührt, kann das daran liegen, dass wir die Sünde nicht begriffen haben. Anders gesagt: Wir wissen nicht wirklich, welche dramatischen Auswirkung die Sünde auf das Leben und unsere Welt hat.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir tatsächlich erfassen können, was geschah, als die Sünde in die Welt kam. Dem Bericht in 1. Mose zufolge wurde die gesamte Schöpfung davon beeinflusst. Alles, was unter der Herrschaft des Menschen stand, und das war praktisch alles, wurde von der Sünde vergiftet. Als der Apostel Paulus später auf diesen Wendepunkt der Weltgeschichte zurückblickte, schrieb er:
Denn alles Geschaffene ist der Vergänglichkeit ausgeliefert – unfreiwillig.
Römer 8,21; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Unsere Wahrnehmung ist begrenzt, denn diese der Vergänglichkeit unterworfene Welt ist die einzige, die wir kennen. Und weil das so ist, können wir uns nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie groß die Kluft zwischen der Lebensrealität auf dieser Welt und Gottes ursprünglicher Absicht ist.
Es gibt Begriffe, die der moderne Mensch nicht so sehr mag. Deshalb wird »Sünde« durch das Wort »Fehler« ersetzt. Wir sind doch keine Sünder, wir haben nur einen Fehler gemacht. Das heißt:
In einer Welt, die überhaupt nicht mehr so ist, wie Gott sie sich gedacht hatte, wird Leben ohne Gott auf einen Fehler reduziert.
Aus Gründen, die wir niemals verstehen werden, gaben sich Adam und Eva nicht mit den vielen erlaubten Bäumen zufrieden. Sie wurden herausgefordert, die Frucht von dem einzigen Baum zu essen, der auf Gottes Verbotsliste stand. Und kaum hatten sie zugegriffen, begann die Herrschaft der Sünde über die Welt und ihre Bewohner. Sie wurden sich ihrer Nacktheit bewusst und schämten sich. Interessant. Die Sünde ist das Einfallstor für die Scham. Die Sünde hatte neben der Scham auch noch eine andere Folge: ein getrübtes Urteilsvermögen.
Adam und Eva versuchten, sich vor Gott zu verstecken, und zwar in dem Garten, den er selbst geschaffen hatte. Wie schlau ist das denn? Es ist etwa so dumm wie der Versuch, Gott aus dem Weg zu gehen, indem man keinen Fuß in eine Kirche setzt. Doch Gott spielte mit und rief in den Garten hinein:
Mensch, wo bist du?
1. Mose 3,9
Übrigens, das hebräische Wort »Adam« bedeutet »Mensch«.
Gott wusste, wo sich der Mensch – der Mann und die Frau – aufhielten. Doch die beiden wussten das offenbar nicht.
Sünde führte zu Scham. Sünde führte zur Angst. Sünde führte zur Verdrängung der Schuld. Adam begann, nach Ausflüchten für sein Verhalten zu suchen und gab tatsächlich Gott die Schuld für das Geschehene.
Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen.
1. Mose 3,12; Einheitsübersetzung, 2016
Mit anderen Worten: »Wenn du diese Frau nicht in mein Leben gestellt hättest, wäre das alles gar nicht passiert!«
Damals fing es an. Adam wälzte die Schuld für sein Versagen auf Gott ab. Seitdem beschuldigt die Menschheit Gott für alles Übel. Adam weigert sich, die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Und wenn sich jemand weigert, für seine Taten geradezustehen, sucht er jemanden, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann. Adam entschied sich für Gott. Und das tun Menschen bis heute.
Es ist sicher nicht leicht, Leid und Unrecht in unserer Welt mit der Vorstellung von einem souveränen, liebenden, gnädigen und gerechten Gott in Einklang zu bringen.
Vom Anfang der Bibel an wird Gott für das Böse auf der Welt verantwortlich gemacht. »Die Frau, die du mir zur Seite gestellt hast.« Diesen Satz finden wir heute in unendlich vielen Variationen.
Wie reagierte Gott auf diesen Vorwurf und die Angst und die Scham? Adam und Eva bekamen genau das, was sie nicht verdienten, Gottes Gnade. Ist dir aufgefallen, dass Gott sein eigenes Wort gebrochen hat? Er wollte ihnen etwas geben, was sie nicht verdient hatten. Die Androhung lautete:
… denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben.
1. Mose 2,17; Einheitsübersetzung, 2016
Doch das geschah nicht.
Mir hat man beigebracht, dass es ein geistlicher Tod sei, den sie gestorben sind. Ich habe es geglaubt. Aber das steht da gar nicht. Auch wurde gesagt, dass sie von dem Moment an von Gott getrennt waren. Doch auch das lässt sich nirgendwo nachlesen. Ganz im Gegenteil: Gleich nachdem Adam und Eva gesündigt hatten, führten sie ein langes Gespräch mit Gott. Es war sicher nicht gerade das mutmachendste Gespräch, das wir in der Bibel finden, doch Gott verschwand nicht mit einem Mal aus ihrem Leben. Ihre Sünde machte sie auch nicht unfähig, auf Gottes Stimme zu hören. Die Sünde trennte sie auch nicht von Gott, weil er sich gekränkt zurückgezogen hätte.
Nein, Gott ist da und macht den ersten Schritt: »Mensch, wo bist du?« Gott hörte geduldig zu, als Adam und Eva versuchten, die Schuld von sich abzuwälzen und sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Dann aber geschah etwas Eigenartiges. Gott sprach eine Reihe von Flüchen aus. Der ursprüngliche hebräische Text ist Lied–ähnlich geschrieben.
Zur Frau sagte er: „Viele Unannehmlichkeiten werden über dich kommen und die Beschwerden deiner Schwangerschaft. Mit Schmerzen wirst du Kinder gebären. Dein Verlangen wird sein, deinen Mann zu besitzen, doch er wird herrschen über dich.“ Zu Adam sagte er: „Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, obwohl ich dir das ausdrücklich verboten habe, vernimm das Folgende: ‘Deinetwegen sei der Acker verflucht! Um dich von ihm zu ernähren, musst du dich lebenslang mühen. Dornen und Disteln werden dort wachsen, doch bietet er dir auch Frucht. Mit Schweiß wirst du dein Brot verdienen, bis du zurückkehrst zur Erde, von der du genommen bist. Denn Staub bist du, und zu Staub wirst du werden.’“
1. Mose 3,16-19; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Gott reagiert auf die von Adam und Eva begangene Sünde, indem er Mann und Frau einzeln verflucht: Sie wird unter Schmerzen gebären, und er muss hart arbeiten für den Lebensunterhalt. Auch das Paar verflucht er, ihre Intimität wird durch Unfrieden getrübt werden. Sogar den Ackerboden verflucht er. Das klingt sehr hart, oder? Aber Adam und Eva sterben nicht.
Gott hatte alles Recht der Welt, die Schöpfung auf den Nullpunkt zurückzusetzen. Stattdessen spricht er Flüche aus.
Ich konfrontiere dich jetzt mit einer ungeheuerlichen Behauptung: Die Flüche sind ein Beweis für Gottes Barmherzigkeit. Das »Theologische Begriffslexikon zum Neuen Testament« bezeichnet »Barmherzigkeit« als eine »Gemütsbewegung der Rührung, die jemanden angesichts eines Übels, das einen anderen betroffen hat, ergreift, also das Mitleid, Erbarmen«.
Gott handelte barmherzig dadurch, dass er kein schnelles und endgültiges Urteil über Adam und Eva fällte, obwohl sie es wegen ihres Ungehorsams verdient gehabt hätten. Er ließ sie nicht auf der Stelle tot umfallen, sondern versuchte sozusagen Zeit zu schinden, um einen Plan für ihre Rettung in Gang zu setzen. Statt Adam und Eva für ihre Sünde zu vernichten, verfluchte Gott sie und ihre Nachkommen, die damit mit den Konsequenzen ihres Vergehens leben mussten.
Das hebräische Wort für »verfluchen« kommt von einem Wortstamm, der »Binden« und »Fesseln« bedeutet. Gott reagierte auf die Sünde von Adam und Eva damit, dass er sie und ihre Nachkommen an die Folgen ihres Ungehorsams band. Er verschob das Sterbenmüssen in die Zukunft.
Gott griff zu einer »Erziehungsmaßnahme«, und zwar um ihret- und der nachfolgenden Generationen willen. Und diese Maßnahme war ein Ausdruck der Gnade für sie und für die Menschen, die nach ihnen kommen sollten.
Gott entschied sich dort im Garten, die Menschheit nicht zu vernichten, sondern mit viel Geduld und Beharrlichkeit um ihr Vertrauen zu werben. Gnade nahm es mit einer Welt auf, die von nun an von Sünde und Tod gezeichnet sein würde.
Tausende von Jahren später sagt der Sprücheschreiber:
Mein Sohn, verachte nicht die Belehrung Jahwes, sei nicht unwillig, wenn er dich ermahnt. Denn wen Jahwe liebt, den erzieht er streng, wie der Vater den Sohn, den er gern hat.
Sprüche 3,11-12; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Das ist die andere Seite der Gnade.
Ich erziehe nicht die Kinder anderer Leute. Die liegen nicht in meinem Verantwortungsbereich. Die größte Bedrohung quelle ich für die Kinder dar, die ich am meisten liebe. Ich bin der einzige Papa, der ihnen in den Sinn kommt, wenn sie etwas ausgeheckt haben und denken: „Hoffentlich erfährt Papa das nicht.“ Aber ich bin auch der einzige Vater, zu dem sie kommen, wenn sie Angst haben, verletzt sind oder etwas brauchen.
Deshalb sollte es uns nicht überraschen, dass Gott sich Adam und Eva zuwandte, als er sie aus dem Garten hinauswarf, und ihnen etwas gab, das sie in dieser Welt der Scham dringend benötigten: etwas anzuziehen.
Dann bekleidete Jahwe-Gott Adam und seine Frau mit Gewändern aus Fell …
1. Mose 3,21; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Da haben wir es wieder. Gnade. Von Anfang an reagierte Gott auf die Sünde der Menschheit mit wunderbarer Gnade.
Etwas Wichtiges habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Gott spricht ja auch die Schlange an. Und da deutet er auf das Kommen desjenigen hin, der die Folgen der Sünde aller Menschen auf sich nimmt:
Da sagte Jahwe-Gott zur Schlange: Weil du das getan hast, sei mehr verflucht als alles Herdenvieh und mehr als alle wilden Tiere! Kriech auf dem Bauch und schlucke Staub dein Leben lang! Ich quelle Feindschaft zwischen dich und die Frau, deinem Nachwuchs und ihrem. Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihm die Ferse zerbeißen.
1. Mose 3,14-15; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Der Nachwuchs der Frau ist die ganze Menschheit, denn sie und Adam sollten fruchtbar sein und sich vermehren.
In dieser Ankündigung des Schicksals der Schlange wird vorhergesagt, dass die gesamte Menschheit unter der Last des Bösen leiden muss. Doch in den letzten beiden Zeilen dieses ersten Fluchs wird noch etwas viel Gewaltigeres angesprochen: »Er wird dir den Kopf zertreten.« Plötzlich wird aus »Sie«, ihrem Nachwuchs in der Mehrzahl, ein einzelner, nicht mit Namen benannter »Er«.
In diesem Zusammenhang klingt das recht eigenartig. Wenn sich der Satz auf die ganze Menschheit bezöge, müsste hier eigentlich »sie«, Plural, stehen.
Offenbar meinte Gott damit, dass nicht das Menschengeschlecht im Ganzen mit der Sünde fertig wird, sondern ein ganz bestimmter »Er« — ein zweiter Adam, wird in Gottes Namen und Auftrag kommen. Er lässt sich den Sold für die Sünden der Menschheit auszahlen. Er trägt die Last des Bösen und erleidet den Tod, der Adam angedroht worden war und den wir alle verdient gehabt hätten.
Wir erfahren hier den dramatischen Wechsel von einer Welt, die wir uns kaum vorstellen können, in die Welt, die wir kennen. Wir nehmen die Verheißung mit, dass Gottes Gnade einmal mit Jesus menschliche Gestalt annimmt.
Gnade versetzt uns in die Lage, zurück in eine Welt zu gehen, in der Sünde und Tod besiegt sind.
Gottes Geschichte mit der Menschheit beginnt mit Gnade.
Gnade, die auch dich sucht. Hast du in ihrem Schutz Ruhe gefunden?