Der Gnade auf der Spur 11

Unmöglich? Unmöglich!


Kannst du mir folgende Frage beantworten?
Was haben die folgenden Gruppen und Personen gemeinsam?


• Klingonen
• Philister
• Cruella De Vil
• Sheriff von Nottingham
• Pharisäer


Stopp, die Zeit ist abgelaufen.
Hast du es gewusst? All diese Beispiele waren jemandes Erzfeind oder Rivale.
Star-Trek-Fans aller Generationen sind mit den Klingonen vertraut.
Als Bibelkenner weißt du, dass die alten Israeliten sich ständig mit den Philistern gestritten hatten.
Disneys Dalmatiner wussten, dass sie Cruella besser aus dem Weg gehen sollten.
Der Sheriff von Nottingham versuchte Robin Hood zu fassen.
Und wenn du die Evangelien gelesen hast, weißt du, dass die Pharisäer Jesus auflauerten, um ihn bei der Bevölkerung in Misskredit zu bringen.

Wenn man den Begriff »Pharisäer« im Wörterbuch nachschlägt, findet man mindestens zwei Definitionen.
Erstens wird erklärt, dass es sich um eine Gruppe von einflussreichen religiösen Leuten im Judentum handelt, die das mosaische Gesetz besonders unnachsichtig auslegten.
Die zweite Definition wird in etwa so lauten: Ein selbstgerechter, scheinheiliger oder gesetzlicher Mensch.
Davon ausgehend, würden sich die meisten von uns wohl eher als Klingone denn als Pharisäer bezeichnen lassen.
Ihre Befolgung des mosaischen Gesetzes hatte extreme Formen angenommen. Jesus hat das zum Anlass genommen, ein siebenfaches Wehe über die Schriftgelehrten und Pharisäer auszusprechen.
Als wären über sechshundert Gesetze nicht genug, stellten sie noch zusätzliche Listen mit Verhaltensanordnungen auf, um sicherzustellen, dass man die eigentlichen Gebote nicht versehentlich übertrat. Nicht weniger als neununddreißig Dinge waren einer dieser Listen zufolge am Sabbat verboten. Ironischerweise verwandelte sich der Ruhetag damit in einen Tag, an dem man intensiv daran arbeiten musste, alle möglichen religiösen Vorschriften zu beachten, damit man den Sabbat nicht übertrat.

Ein weiterer Bereich waren die rituelle Waschungen.
Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, versammelten sich bei Jesus. Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben; so halten sie an der Überlieferung der Alten fest.
Markus 7,1-3; Einheitsübersetzung, 2016
Bei jeder Mahlzeit hielt man Wasserkrüge bereit, damit man sich die Hände waschen konnte. Die mindeste Wassermenge für die Waschung wurde auf ein Viertel Log festgesetzt. Das entsprach dem Volumen von anderthalb Eiern oder drei Schnapsgläsern.
Das Wasser wurde zunächst über beide Hände gegossen, wobei die Finger nach oben zeigten. Am Handgelenk ließ man es abtropfen, denn das Wasser war unrein geworden, nachdem es mit den unreinen Händen in Kontakt gekommen war. Wenn man es wieder über die Finger rinnen lassen würde, wären sie wieder unrein.
Der Vorgang wurde noch einmal wiederholt, wobei die Finger nun nach unten zeigten. Schließlich wurde jede Hand gereinigt, indem man sie an der anderen Faust rieb.
Ein strenggläubiger Jude wusch sich nicht nur vor jeder Mahlzeit die Hände, sondern auch zwischen den einzelnen Gängen einer Mahlzeit.

Die Pharisäer hielten sich für vorbildliche Bürger in Gottes Reich. Und sie waren bei vielen im Volk hoch angesehen.
Dazu zählte auch ein Pharisäer namens Nikodemus. Wenn jemand die Gewissheit erlangt hat, dass er durch seine Frömmigkeit in Gottes Gunst ganz oben stand, dann Nikodemus.
Im Gegensatz zu Matthäus, dem Steuereintreiber, war Nikodemus, der Pharisäer, sehr zufrieden mit dem, was aus ihm geworden war. Er galt als Autorität in allen religiösen Fragen.
Seit einigen Monaten redete man über einen neuen Rabbi, den Wanderprediger Jesus, aus der Provinz Galiläa.
Er war ein mitreißender Lehrer.
Er sprach mit ungewöhnlicher Autorität.
Was er über Gottes Reich zu sagen wusste, war frisch und bezwingend.
Außerdem machte es die Runde, dass er Kranke durch ein Wort heilen konnte.
Doch manches wirkte auch verstörend: Er erdreistete sich, Sünden zu vergeben. Das aber konnte und durfte nur Gott.
Die Frommen, die das aus erster Hand miterlebt hatten, waren entsetzt. Eine ständig wachsende Zahl von Anhängern folgte ihm von Dorf zu Dorf, und manche wagten es sogar, das M-Wort auszusprechen: »Maschiach«. Vor allem dieses Gerücht ließ Nikodemus aufhorchen.

Nikodemus war ein Mitglied des Hohen Rats, des »Sanhedrins«.
Diese Institution war in Israel Regierung, Oberster Gerichtshof und Kirchenleitung in einem. Siebzig erfahrene Staatsmänner, angeführt von einem Vertrauten des Hohepriesters, repräsentierten Israel gegenüber Rom, und umgekehrt regierten sie in Roms Auftrag das Volk.
Sie verteidigten eifrig ihre Stellung. Nicht nur, weil der Kaiser die »Regierung« für die Bewahrung des Friedens im Land gut bezahlte, sondern auch, weil man Rom nicht reizen wollte.

Der Kaiser und sein Statthalter erlaubten den Juden, ihren einzigartigen, unsichtbaren Gott anzubeten, und räumten ihnen das Recht ein, ihr »Gelobtes Land« ihren Traditionen gemäß zu regieren, solange Ruhe herrschte und alle ihre Steuern zahlten. Daher wurde der Sanhedrin bei jedem misstrauisch, der von sich behauptete, der Messias, also der »König« der Juden, zu sein.

Dieser neue wundertätige Rabbi aus Galiläa hatte im Tempel Aufsehen erregt.
Er hatte die Tische der Händler umgestürzt, die mit Genehmigung des Hohepriesters im Tempel Opfertiere verkauften und Geld wechselten. Und dann hat er den Tempel als »Haus meines Vaters« bezeichnet. Die religiösen Führer verlangten von ihm ein »Zeichen« als Beweis, dass er wirklich der Messias ist. Jesus ist darauf nicht eingegangen und hat weiterhin Menschen geheilt, als wollte er sagen: »Schaut einfach her, und dann bekommt ihr alle Beweise, die ihr braucht.«
In Wirklichkeit wollten sie auch gar keine Beweise. Sie hatten nur Angst, die Kontrolle über das Volk zu verlieren.

Sadduzäer und Pharisäer waren sich nicht grün, doch was Israels Zukunft betraf, hatten sie ganz ähnliche Vorstellungen. Sie träumten von einem Gottesreich, das auf kluger Politik und militärischer Macht beruhte, angeführt von einem Messias, der ihre Vision teilte und ihre Machtposition stützte. War Jesus der richtige Mann dafür?
Während des Passafestes war Jesus in Jerusalem. Viele glaubten an ihn, als sie die Wunder sahen, die er tat.
Johannes 2,23; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Der Hohe Rat konnte Jesus weder loswerden noch in Misskredit bringen. Andererseits war es zu riskant und zu früh, um diesen Jesus von Nazareth als eventuellen Messias zu unterstützen.
Während Israels Führer hin und her überlegten, schaute das Volk auf sie, um Richtungsweisung zu erhalten. War er der Messias oder nicht? Der Sanhedrin hatte ein echtes Problem.

Nikodemus wollte sich nicht auf Gerüchte verlassen. Er suchte Jesus auf, um eine eigene Entscheidung treffen zu können. Er ging in der Nacht, allein. Wir erfahren nicht, warum. Doch weil Johannes dieses Detail bewusst einfügt, können wir davon ausgehen, dass er einen bestimmten Zweck damit verfolgte. Möglicherweise hätte es für Nikodemus gefährlich werden können, Jesus zu besuchen. Wären die beiden zusammen gesehen worden, hätte man Nikodemus möglicherweise Fragen gestellt, die er weder beantworten wollte noch konnte. Also ging er nachts. Ob Nikodemus nun auf eigene Faust handelte oder im Auftrag des Sanhedrins mit Jesus Kontakt aufnahm, wird auch nicht berichtet.
Aber ihm brannte eine Frage unter den Nägeln, eine Frage, die vielen durch den Kopf ging, die Jesus persönlich erlebt oder durch andere Menschen von ihm erfahren hatten: Ist er der Messias?

Wie jeder fromme Jude lebte Nikodemus in der stillen Erwartung, dass Gottes Gesalbter noch zu seinen Lebzeiten erscheinen und den Königsthron besteigen würde. Nikodemus hoffte auf einen Messias, der David gleichen würde, nur ohne Seifenoper, oder auch Salomo, aber ohne Harem. Vielleicht träumte er von militärischen Eroberungen und wirtschaftlicher Blüte.
Jetzt wollte er Jesus sprechen, um selbst herauszufinden: War er der, der kommen soll?

In einer Sache war sich Nikodemus gewiss: Dieser Wundertäter aus Galiläa musste von Gott gesandt worden sein. Deshalb musste man ihm mit derselben Ehrerbietung begegnen wie einem Lehrer. Aus diesem Grund redete er Jesus respektvoll mit dem Titel »Rabbi« an.
„Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, den Gott uns geschickt hat, denn deine Wunderzeichen beweisen, dass Gott mit dir ist.“
Johannes 3,2; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Nikodemus könnte Jesus hier natürlich aus taktischen Gründen geschmeichelt haben. Doch wenn wir das gesamte Gespräch in Betracht ziehen, war das wohl eher nicht der Fall. Nikodemus war überzeugt, dass an Jesus irgendetwas einzigartig war.

Doch mit einem hat er nicht gerechnet: Jesus schaute ihm ins Herz. Jesus wusste, warum Nikodemus zu ihm gekommen war, noch bevor er seine erste Frage gestellt hatte. Und noch etwas irritierte Nikodemus: Jesus hatte die verblüffende Angewohnheit, Fragen zu beantworten, die niemand gestellt hat, die aber gestellt werden mussten.
Da Jesus das Innere der Menschen kannte, konnte er irrige Denkmuster aufdecken und das Gespräch auf die Themen lenken, die diesem Irrtum zugrunde lagen.

Nikodemus kam also, weil er wissen wollte, wer Jesus wirklich war. Doch Jesus hatte einen anderen Gesprächsverlauf im Sinn. Das Thema »Messias« würde er überspringen und stattdessen darauf zu sprechen kommen, dass Nikodemus ein falsches Gottesbild hatte. Das war der Grund, weshalb »Israels Lehrer« nicht verstand, welche Pläne Gott mit seinem Volk und dem Messias hatte.
Seine Fragen wären am Wesentlichen vorbeigegangen, weil er von falschen Voraussetzungen ausging. Ja, Jesus war Gottes Gesalbter. Aber er war nicht der Messias, auf den Nikodemus hoffte und für den er betete. Es würde keinen militärischen Feldzug geben, um einige Quadratkilometer Boden zu erobern oder sich der Römer zu entledigen.
Gottes Messias hatte etwas viel Größeres im Sinn. Er war gekommen, um die ganze Welt zu befreien.
Kaum hatte Nikodemus seine einleitenden Bemerkungen über die Lippen gebracht, da unterbrach ihn Jesus auch schon, fast mitten im Satz. Jesus kam direkt auf seinen eigentlichen Irrtum zu sprechen:
»Ich sage dir ganz klar und deutlich: Nur wenn ein Mensch noch einmal geboren wird, und zwar aus der Kraft, die von oben kommt, kann er Gottes Herrschaftsbereich, seine neue Wirklichkeit überhaupt wahrnehmen!«
Johannes 3,3; Das Buch, 2022
Hä?
Ohne Vorwarnung wurde ein Licht angezündet. Und es blendete. War verwirrend. Bedrohlich. Raubte einem die Nerven. Als Diplomat hatte sich Nikodemus darauf eingestellt, sich vorsichtig an das eigentliche Thema ganz allmählich heranzutasten. Doch Jesus kam ganz undiplomatisch sofort auf sein Kernanliegen zu sprechen.
Nikodemus hatte völlig falsche Vorstellungen von Gottes Reich. Darum hing auch sein Bild vom Messias ziemlich schief. Nikodemus hatte gelernt und als Lehrer selbst gelehrt, dass jeder von Abrahams Nachkommen von Geburt an das Bürgerrecht in Gottes Reich hat. Die Israeliten wurden in Gottes Reich hineingeboren. Wer sonst noch Bürger werden wollte, musste zum Judentum konvertieren.
Voraussetzung dafür war eine längere Unterweisung in den hebräischen heiligen Schriften und eine rituelle Waschung, die man als »Untertauchen« bezeichnete. Männer mussten noch etwas mehr auf sich nehmen und sich beschneiden lassen. Nur über diese Rituale konnte ein Heide an Gottes Bund mit Abraham teilhaben und zum Bürger des Gottesreichs werden. Die zum Judentum Gewechselten bezeichnete man oft als »Kindlein«.

Doch all das war eigentlich gar nicht das Thema. Schließlich hatte Nikodemus Jesus nicht aufgesucht, um darüber zu diskutieren, wie man in Gottes Reich kommt. Diese Frage war doch seit Abraham geklärt. Die entscheidende Frage war, ob Jesus sich damit zufriedengab, als Rabbi umherzuziehen, oder ob er mehr war.
War Jesus von Nazareth der Messias?
Nichts von dem, was Jesus sagte, konnte Nikodemus in seine bis ins Letzte ausgefeilte religiöse Weltsicht einordnen.

So wie er Gott und Religion verstand, gab es für ihn nur eine einfache Formel: Die Juden waren drin, die Heiden waren draußen. Ansonsten ging es nur noch darum, das Gesetz zu beachten. Wer das halbwegs schafft, arbeitet sich in Gottes Gunst nach oben.
Und Jesus redete davon, dass ein Mensch »noch einmal geboren« werden muss.
Hätte Jesus nur »geboren« gesagt, hätte doch alles einen Sinn ergeben. Natürlich musste ein Mensch geboren werden, damit er Bürger von Gottes Reich werden konnte. Wenn er gesagt hätte: »als Kind jüdischer Eltern geboren«, hätte das ebenfalls einen Sinn ergeben. Aber »noch einmal geboren«?

Das ist doch unmöglich. Und es ist auch nicht das Thema, das auf Nikodemus’ Agenda steht. »Noch einmal geboren«, »von neuem geboren«, »von oben geboren«, wie auch immer, Jesus deutete damit auf eine Art »zweite Geburt« hin.
Damit deutet Jesus an, dass es nicht ausreicht, Abrahams leiblicher Nachkomme zu sein. Und das ist nicht nur unglaublich, sondern hat auch den Beigeschmack von Gotteslästerung. Doch hätte Nikodemus das zur Sprache bringen wollen, hätte er seine ersten Worte zurückziehen müssen:
Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.
Johannes 3,2; Zürcher Bibel, 2007
Nikodemus steckte in einer Zwickmühle. Er war verwirrt, aber auch neugierig. Also gab er seinen ursprünglichen Plan auf und ließ sich auf Jesus ein, so gut er konnte.
Nikodemus fragte: »Wie ist das möglich? Wie kann ein Mensch, der alt geworden ist, noch einmal geboren werden? Er kann doch nicht noch einmal in den Bauch seiner Mutter kriechen und dann geboren werden?«
Johannes 3,4; Das Buch, 2022
Ich bin überzeugt, dass Jesus lächeln musste, als er dieses absurde Bild vor seinem geistigen Auge sah. Vielleicht lächelten auch beide.
Doch Jesus gab nicht nach, sondern ging noch einen Schritt weiter.
»Ich sage dir ganz deutlich: Wenn ein Mensch nicht noch einmal geboren wird, und zwar durch das Wasser und durch den Geist, dann kann er nicht in die neue Wirklichkeit Gottes hineinkommen! Das, was aus menschlichen Möglichkeiten heraus entstanden ist, ist begrenzt und vergänglich wie die Menschen. Was aber entstanden ist aus dem Leben schaffenden Geist Gottes, das trägt in sich diese Wirklichkeit des Gottesgeistes.
Johannes 3,5-6; Das Buch, 2022
Nikodemus’ verwirrter Blick sprach Bände. Jesus fuhr fort:
Wundere dich also nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden.
Johannes 3,7; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Die Botschaft hätte deutlicher nicht sein können.
»Nikodemus, als Israels Lehrer solltest du wissen, dass die menschliche Geburt für das Bürgerrecht in Gottes Reich nicht ausreicht. Dazu gehört mehr. Etwas muss von oben her geschehen.« Trotz seiner Erziehung und seiner gründlichen Kenntnis der jüdischen Bibel reagierte Nikodemus überrascht:
»Wie ist so etwas möglich?«
Johannes 3,9; Gute Nachricht Bibel, 2018
Vielleicht meinte er auch: »Jetzt verstehe ich, aber wie konnte mir das nur so lange entgangen sein?«
Jesus fuhr fort:
Wenn ich vom Irdischen zu euch rede, und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr da glauben, wenn ich vom Himmlischen zu euch rede? Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen ausser dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn.
Johannes 3,12-13; Zürcher Bibel, 2007
Jetzt geriet die Lage außer Kontrolle. Jesus behauptete, vom Himmel gekommen zu sein. Zugegeben, Nikodemus hatte erkannt, dass Jesus ein von Gott »Gesandter« sein muss. Aber buchstäblich vom Himmel?
Was das bedeutete, ließ ihn den Atem stocken. Entweder war dieser Jesus völlig verrückt oder aber er war der, auf den sie warten.

Wir müssen Nikodemus ein Lob aussprechen. Er hat dieses grelle Licht ausgehalten, das Jesus auf seine Unwissenheit scheinen ließ. Niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht, wenn er sich schnell verabschiedet hätte, bevor dieser Wanderprediger seine Denkmuster noch weiter durcheinandergebracht hätte.
Nikodemus hatte sein ganzes Leben lang gelernt, gelehrt und ein religiöses System hochgehalten, das seine Identität prägte und seinem Leben Sinn gab. Aber trotzdem zog er jetzt die Möglichkeit in Erwägung, dass ihm etwas Wesentliches entgangen war.
Jesus erkannte, dass Nikodemus aufrichtig war, und er war vielleicht von seiner Bereitschaft beeindruckt, das Gespräch weiterzuführen. Deshalb suchte er eine gemeinsame Grundlage in einer Geschichte aus dem Alten Testament:
Und so wie Mose damals in der Wüste die Bronzeschlange weit sichtbar und hoch anbringen ließ, …
Johannes 3,14; Das Buch, 2022
Endlich! Damit konnte Nikodemus etwas anfangen. Jeder Jude kannte diese Geschichte.
Vierzig Jahre war das Volk durch die Wüste gewandert. Aber nicht, weil es sich verirrt hatte, sondern weil es sich weigerte, Gott zu vertrauen, als die Grenze zum Gelobten Land erreicht war. Sie hatten zwölf Kundschafter ausgesandt. Zehn von ihnen säten Angst: Zu starke und zu viele Feinde, und wir sind zu schwach und zu wenige.
Das Volk revoltierte gegen Gott und Mose. Die Folge war, dass sie in der Wüste umherwandern mussten, bis die gesamte Generation der Zweifler gestorben war.

In jener Zeit sind die Israeliten einmal durch ein Gebiet gezogen, in dem es von Giftschlangen wimmelte. Als sie ihre Lage begriffen, war es schon zu spät, irgendetwas zu unternehmen. Unzählige wurden gebissen, viele brachen zusammen und starben.
Gott wies Mose an, eine Bronzeschlange anzufertigen und sie auf einen Pfahl zu setzen. Wer von einer Schlange gebissen wurde und dann auf die Bronzeschlange blickte, blieb am Leben. Diese praktische Lehrhilfe sollte das Volk ermutigen, auf Gott zu blicken und ihm zu vertrauen. Denn er war es, der sie beschützte und versorgte.
Doch Jesus war noch nicht fertig.
Und wie Mose damals in der Wüste die Schlange für alle sichtbar aufgerichtet hat, so muss auch der Menschensohn sichtbar aufgerichtet werden, damit jeder, der ihm vertraut, ewiges Leben hat.
Johannes 3,14-15; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Damit hatte Nikodemus wohl nicht gerechnet. Doch zumindest hatte er nun eine Antwort bekommen: Jesus behauptete, der von Gott gesandte Gesalbte zu sein. Der Messias. Und dieser Jesus sagte, dass jeder, der ihm sein Vertrauen schenkt, ewiges Leben – Leben in göttlicher Qualität – als Gegenleistung bekommt. Er war seiner eigenen Aussage zufolge der Mittler zwischen Gott und Mensch.

Das Vergleichswort »wie«, deutlicher ausgedrückt »genauso wie«, verstörte Nikodemus.
Ein Mensch, der auf einem Pfahl aufgerichtet wird, ist ein Mensch, den man zum Tod verurteilt hatte. In seiner Theologie war kein Platz für einen hingerichteten Messias. Vielleicht hatte er Jesus missverstanden.
Doch eine Sache irritierte ihn sogar noch mehr. Jesus hatte »jeder« gesagt. Meinte er damit wirklich jeden?
Ganz gewiss hatte er damit alle Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob gemeint. Aber er hatte gesagt: »jeder, der vertraut«. Die Schlichtheit dieser Gleichung überwältigte Nikodemus bei seiner ersten Begegnung mit Jesus. Er konnte es nicht fassen. Jesus setzte Glauben oder Vertrauen mit dem ewigen Leben gleich. An keiner Stelle erwähnte er das Gesetz, den Tempel oder das Opfer.
Es gab nur eine mögliche Verbindung. Die Andeutung, dass Jesus selbst umgebracht werden würde und sein Tod eine Art Brücke zum ewigen Leben schlägt. Für jeden.

Für jemanden, der wie Nikodemus erzogen worden war, muss das viel zu einfach geklungen haben. Wenn er ihn richtig verstanden hatte, machte Jesus es absolut jedem möglich, das ewige Leben zu bekommen und damit Bürgerrecht in Gottes Reich. Und zwar geschenkt.
So verstörend das auf ihn gewirkt haben mag, ein befreiender Aspekt war doch dabei. Denn Jesus war nicht der Einzige, der Nikodemus’ Herz kannte. Auch Nikodemus selbst wusste, wie es in seinem Herzen aussah. So sehr er sich auch bemühte, Gottes Gesetz zu halten, er wusste genau, dass er es nicht geschafft hatte. Wenn das ewige Leben nur den wirklich guten Menschen vorbehalten war, dann lag die Messlatte viel zu hoch. Und selbst ein so frommer Pharisäer wie Nikodemus konnte dem Maßstab nicht genügen.

Mehr wissen wir nicht von Nikodemus’ erster Begegnung mit Jesus.
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er sofort seine religiösen Überzeugungen, die über Jahrzehnte gewachsen waren, über Bord geworfen hätte. Doch lief er auch nicht in die Dunkelheit zurück, sondern setzte sich dem intensiven, durchdringendem Licht der Wahrheit aus. Mit der Zeit gewöhnten sich seine Augen daran.
Er sah, was er niemals zuvor gesehen hatte. Er begriff, was die Propheten vorhergesagt hatten. Israel muss erst von seiner Sünde befreit werden, bevor man auch nur einen Gedanken daran verschwenden kann, die Besatzungsmacht loszuwerden.
Der Messias wird leiden und sterben. Jesus wird sich den Sold der Sünde für jeden Menschen auszahlen lassen. Denn für die Rettung gilt:
»Für Menschen ist es unmöglich, aber für Gott ist alles möglich!«
Matthäus 19,26; Hoffnung für alle, 2015

Darum vertraue seiner Gnade!