Der Gnade auf der Spur 6

Die Gnade und das rote Seil!


Gnade urteilt langsam und rettet schnell.

Ich suche in der Geschichte des Volkes Israel nach dem Sichtbarwerden von Gottes Gnade. Das Volk Israel lagerte am Berg Sinai und empfing von Gott ein umfangreiches Gesetzeswerk. Bis in Einzelheiten hinein wurde von Gott geregelt, wie Israel leben sollte, damit diese Nation eine Offenbarung von Gottes Gnade werden kann.
Ein Zeltheiligtum wurde errichtet. Gott wollte unter seinem Volk wohnen. Sein Raum in diesem Zelt war das »Allerheiligste«. Nur einmal im Jahr – am »Großen Versöhnungstag« – durfte der Hohepriester diesen Raum betreten.
In diesem »Allerheiligsten« gab es einen mit Gold überzogenen Kasten, die »Bundeslade«. Die Tafeln mit den Zehn Geboten wurden in diesen Kasten gelegt. Der Deckel, mit dem die »Bundeslade« verschlossen worden ist, war einem Thron nachempfunden, es war der »Gnadenthron«. Das »Gesetz« war unter der Gnade verborgen. Und auf dem Thron der Gnade erschien Gottes Herrlichkeit. Dieses Zeltheiligtum sollte dem Volk immer wieder bewusst machen, dass ihr Herr und König ein gnädiger Gott ist, der in ihrer Mitte wohnt.
Die Zeit am Sinai ging zu Ende. Doch bevor sich das Volk auf den Weg in Richtung Kanaan machte, wurden die wehrfähigen Männer gezählt.
Alle wehrfähigen Israeliten, die zwanzig Jahre und älter waren, wurden auf diese Weise erfasst. Ihre Gesamtzahl betrug 603.550 Mann.
4. Mose 1,46; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Dazu kamen dann noch 22.000 Leviten, die älter als einen Monat waren. Mit Frauen und Kindern mögen es zwei bis drei Millionen Menschen gewesen sein, die sich aufmachten, um in das »Gelobte Land« zu ziehen. Dieses große Volk machte es Gott nicht leicht. Täglich erlebten sie Gottes Gnade. Aber sie lernten nicht, ihm zu vertrauen.
An der Grenze zu Kanaan bekamen sie Angst und machten Gott und Mose heftige Vorwürfe. Die Bibel berichtet uns, dass Gott kurz davor war, sich von Israel abzuwenden. Mose appelliert an Gott:
Gerade jetzt möge die Kraft Jahwes sich als groß erweisen, wie du gesagt hast: Jahwe ist sehr geduldig und gnädig, er vergibt Schuld und Vergehen, lässt aber keineswegs ungestraft. Er verfolgt die Schuld der Väter bis in die dritte und vierte Generation. Vergib doch die Schuld dieses Volkes, wie es deiner großen Gnade entspricht und wie du diesem Volk von Ägypten an bis hierher immer wieder vergeben hast!
4. Mose 14,17-19; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Gott lässt sich von Mose umstimmen. Aber er kündigt Konsequenzen an:
Da sagte Jahwe: „Ich vergebe nach deinem Wort! Aber so gewiss ich lebe und die ganze Erde von der Herrlichkeit Jahwes erfüllt werden wird: Alle Männer, die meine Herrlichkeit und meine Wunderzeichen gesehen haben, die ich in Ägypten und in der Wüste tat, und die mich nun zehnmal auf die Probe gestellt und nicht auf mich gehört haben, sie werden das Land nicht sehen, das ich ihren Vorfahren unter Eid zugesagt habe. Alle, die mich verachten, werden es nicht sehen.“
4. Mose 14,20-23; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Und nun muss Israel in der Wüste umherziehen, bis alle, die zwanzig Jahre und älter sind, in der Wüste begraben werden. Eine Ausnahme davon waren Josua und Kaleb. Sie vertrauten Gott und seinen Zusagen.
Es wurden beschwerliche Jahre, die vor den Leuten lagen. Diese Menschen haben es Gott nicht leicht gemacht, sie zu seinem Volk zu machen. Sie erhielten täglich Beweise seiner Liebe und Gnade, aber Jahwe, ihrem Gott, zu vertrauen, fiel ihnen schwer.
Rund 40 Jahre waren seit der Gesetzgebung am Berg Sinai vergangen. Die Zeit war gekommen, in der Gott diese Menschen in ihre nationale Eigenständigkeit führen wollte. Noch eine Grenze – der Fluss Jordan – musste bewältigt werden, dann waren sie im »Gelobten Land«.
Mose war inzwischen gestorben und Josua führte das Volk. Er schickte zwei Späher in das Land, um die Gegend und die Verteidigungsanlagen der Städte zu erkunden. Die Männer tarnten sich als Reisende, machten sich auf den Weg und kamen auch in die Stadt Jericho. Sie suchten sich eine Gelegenheit zum Übernachten. Sie fanden so eine Art Gasthaus, das von einer Prostituierten namens Rahab betrieben wurde.
Offensichtlich hatten sie sich wohl schlecht getarnt, denn sie wurden als israelische Spione erkannt. Der König von Jericho wurde davon informiert, dass sie in Rahabs Haus eingekehrt sind. Der König schickte sofort eine Wache zu Rahab, um die hebräischen Spione gefangenzunehmen. Rahab hatte sich jedoch entschieden, die beiden zu schützen. Damit setzte sie ihr eigenes Leben aufs Spiel, denn der König hätte sie mit Sicherheit dafür hinrichten lassen, wenn sie Spione bei sich versteckt und mit ihnen gemeinsame Sache macht.
Doch sie machte sich nichts aus der Gefahr und log die Soldaten des Königs an:
»Ja, die Männer sind bei mir gewesen, aber ich wusste nicht, wo sie herkamen. Als das Stadttor bei ´Einbruch der` Dunkelheit geschlossen werden sollte, haben sie Jericho wieder verlassen. Wohin sie gegangen sind, weiß ich nicht. Verfolgt sie schnell, dann könnt ihr sie vielleicht noch einholen!«
Josua 2,4-5; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Kurz nachdem sich die Soldaten des Königs in Richtung Jordan auf den Weg gemacht hatten, ging Rahab auf das Flachdach. Auf dem Dach lagen Flachsbündel, die dort trocknen sollten. Darunter hatte Rahab die Spione versteckt. Nun erklärte sie Israels Kundschaftern, warum sie ihr eigenes Leben riskiert hatte, um die Spione zu retten.
Ihre Worte offenbaren nicht nur ihre Motive, sondern zeigen auch, wie die Kanaaniter dachten und fühlten. Sie sagte:
„Ich weiß, dass Jahwe euch das Land geben wird. Uns hat ein derartiges Entsetzen vor euch überfallen, dass alle Bewohner des Landes wie gelähmt sind.
Denn wir haben gehört, dass Jahwe das Wasser des Schilfmeeres vor euch ausgetrocknet hat, als ihr aus Ägypten zogt, und wir wissen auch, was ihr mit den beiden Königen der Amoriter auf der anderen Jordanseite gemacht habt, mit Sihon und Og. Ihr habt den Bann an ihnen vollstreckt und sie vernichtet. Als wir das hörten, haben wir allen Mut verloren. Keiner von uns wagt es noch, gegen euch zu kämpfen. Ja, euer Gott, Jahwe, er ist Gott im Himmel oben und auf der Erde unten.“
Josua 2,9-11; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Rahab offenbarte ihre persönliche Überzeugung, dass der eine und wahre Gott Jahwe den Israeliten das Land Kanaan geben würde. Die Zusage, die Abraham sechshundertfünfzig Jahre zuvor erhalten hatte, schien bei den Kanaanitern bekannt zu sein. Als die Nachkommen Abrahams sich anschickten, den Jordan zu überqueren, verstanden die Menschen, die im »Gelobten Land« wohnten, sehr wohl, was das bedeutete.
Es hatte sich auch ohne Post, Telefon und Internet herumgesprochen, welche Wunder den Auszug aus Ägypten begleitet und welche militärischen Siege die Israeliten über andere feindliche Kanaaniter errungen hatten. Rahab erzählte von der Angst ihrer Landsleute, als sie sagte:
Keiner von uns wagt es noch, gegen euch zu kämpfen. Ja, euer Gott, Jahwe, er ist Gott im Himmel oben und auf der Erde unten.
Josua 2,11; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Mit anderen Worten: Viele Kanaaniter erkannten an, dass der Gott der Hebräer souverän über das gesamte Universum herrschte. Sie waren sich dessen bewusst, dass er Kanaan den Israeliten gegeben hatte. Und dieses 2- oder 3-Millionen-Volk lagerte sich am Ostufer des Jordans, um in das »Gelobte Land« einzuziehen.
Rahab reagierte völlig anders als ihre Landsleute. Während die Kanaaniter sich auf einen Verteidigungskrieg vorbereiteten, stellte sie sich auf Jahwes Seite und bat um Schutz. Die Stadt war von zwei Mauern umschlossen, die parallel im Abstand von etwa fünf Metern verliefen. Auf dicken Holzbalken, die die Mauern verbanden, waren Häuser errichtet. Rahab bewohnte ein solches Haus, das Fenster nach draußen hatte.
Kurz bevor die hebräischen Kundschafter in der Dunkelheit verschwanden, flehte sie:
„Nun bitte ich euch, schwört mir bei Jahwe, dass ihr meine Familie genauso verschont, wie ich euch verschont habe, und gebt mir ein sicheres Zeichen, dass ihr meine Angehörigen, meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern und alle, die zu ihnen gehören, am Leben lasst, dass ihr uns rettet vom Tod.“
Josua 2,12-13; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Die beiden Männer gingen darauf ein.
Da sagten die Kundschafter zu ihr: „Unser Leben steht für euer Leben! Wenn ihr unsere Sache nicht verratet, werden wir dich und deine Angehörigen verschonen, wenn Jahwe uns dieses Land gibt.“
Josua 2,14; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Rahab gab den Männern einen guten Rat:
»Flieht ins Bergland, damit die Verfolger euch nicht finden. Versteckt euch dort drei Tage lang, bis sie von ihrer Suche zurückgekommen sind. Danach könnt ihr weiterziehen.«
Josua 2,16; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Bevor sie gingen, gaben die Kundschafter Rahab noch die Zusage:
»Der Eid, den du uns hast schwören lassen, gilt nur unter einer Bedingung: Wenn unser Heer hier eintrifft, dann binde dieses rote Seil an das Fenster, durch das du uns ´jetzt` hinunterlässt. Hol deine Eltern, Geschwister und alle Verwandten zu dir ins Haus.
Niemand darf es verlassen. Wer es doch tut, ist selbst schuld an seinem Tod. In diesem Fall gilt unser Versprechen nicht. Wer aber bei dir im Haus bleibt, ´für den bürgen wir mit unserem Leben`. Würde er getötet, träfe uns die Schuld für seinen Tod.
Solltest du uns aber verraten, sind wir nicht mehr an den Eid gebunden, den du uns hast schwören lassen.«
Josua 2,17-20; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Als der Suchtrupp lange genug unterwegs war, ließ Rahab die israelitischen Spione an einem roten Seil durch ein Fenster in dem Haus auf der Stadtmauer hinab. Gewisse Ähnlichkeiten zum Passahfest kann man nicht übersehen. Als der Todesengel bei der letzten Plage in Ägypten durch das Land ging und alle Erstgeborenen tötete, wurde jedes Haus verschont, dessen Türpfosten mit Lammblut beschmiert war.
Wie Gott den Israeliten Gnade erwiesen hatte, erwies er sie auch einer heidnischen Prostituierten, die nichts weiter von ihm wusste als seinen Namen und dass er mächtig war.

Als Josua Moses Nachfolge antrat und die Führung des Volkes Israel übernahm, war er bereits ein erfahrener Heerführer. Nun, da Jericho angegriffen werden sollte, hätte er sicher auf bewährte Standardbelagerungstaktiken zurückgegriffen, doch Gott hatte einen anderen und ungewöhnlichen Plan.
Sie sollten sechs Tage lang einmal täglich um die Stadtmauer marschieren. Und am siebten Tag siebenmal. Warum nicht nur einmal herumlaufen, Kriegsgeschrei erheben und die Stadtmauer gleich am ersten Tag dem Erdboden gleichmachen?
Könnte es sein, dass ein Gott voller Gnade den Einwohnern von Jericho sieben Tage Zeit geben wollte, noch einmal über ihre Entscheidung nachzudenken, sich seinem Volk entgegenzustellen? Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er begeistert zehntausend rote Seile in Fenstern in der ganzen Stadt wahrgenommen hätte. Es hätte ihn gefreut, wenn die Verantwortlichen das Stadttor geöffnet, ihren Götzen abgeschworen, ihre abscheulichen Praktiken abgeschafft und den Gott Israels als den einen wahren Gott anerkannt hätten.
Während der sechstägigen Zeit der Gnade hätte jeder, der wollte, bei Rahab Zuflucht suchen können. Die Spione hatten nicht nur versprochen, ihre Angehörigen zu schützen, sondern für die Sicherheit jedes Einzelnen garantiert, der sich in ihrer Wohnung aufhielt. Doch sechs Tage vergingen, und nur Rahab und ihre Familie wollten Gottes Gnade in Anspruch nehmen.
Am siebten Tag marschierten die Israeliten siebenmal um die Stadt. Danach bliesen die Priester ihre Posaunen, das Volk erhob ein Kriegsgeschrei und die Mauern stürzten ein. Als die Mauern in sich zusammenstürzten, brach das Chaos aus. Inmitten dieser Verwüstung verschonte Gott jedoch ein Haus, weil eine kanaanitische Prostituierte an ihn geglaubt hatte. Zu den beiden jungen Männern, die das Land ausgekundschaftet hatten, sagte Josua:
»Geht in das Haus der Prostituierten und geleitet sie mit allen, die zu ihr gehören, ´sicher` aus der Stadt, wie ihr es geschworen habt.«
Da gingen die beiden Kundschafter zu Rahabs Haus und brachten sie mit ihren Eltern, Geschwistern und allen Verwandten aus der Stadt. Sie wiesen Rahab und ihrer Familie einen Platz außerhalb des israelitischen Lagers zu, wo sie bleiben konnten.
Josua 6,22–23; Neue Genfer Übersetzung, 2011


Die Israeliten brannten Jericho vollständig nieder. … Die Prostituierte Rahab samt ihren Eltern und Geschwistern und allen anderen Verwandten ließ Josua am Leben, weil sie die Kundschafter, die in seinem Auftrag Jericho ausspioniert hatten, versteckt hatte. Noch heute lebt sie in Israel.
Josua 6, 24–25; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Übersehe nur nicht den letzten Satz. Er ist unglaublich wichtig. Der Erzähler, der diese Ereignisse einige Jahre später niederschrieb, jedoch noch vor Rahabs Tod, schließt seinen Bericht mit dem denkwürdigen Satz: »Noch heute lebt sie in Israel.«
Eine kanaanitische Prostituierte, die unter anderen Umständen nach dem mosaischen Gesetz gesteinigt worden wäre, wurde zu einem anerkannten Mitglied in Gottes Volk, zu einer Adoptivtochter des Bundes. Sie hatte Gott vertraut; sie war von der Gemeinschaft angenommen worden; sie erhielt ein Anrecht auf einen Teil des Landes, das Abrahams Nachkommen versprochen worden war.
Sie hatte auf ihren unberechtigten Anspruch auf ein Haus in Jericho verzichtet und Gottes Angebot angenommen. Ihr war vergeben und sie hat Gnade angenommen. So wurde Rahab in Gottes Familie aufgenommen und zur Erbin der Verheißung an Abraham.

Doch die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende! Matthäus informiert die Leser seines Evangeliums über den Stammbaum von Jesus:
Ram wurde der Vater von Amminadab, Amminadab der von Nachschon, Nachschon der von Salmon. Salmon heiratete Rahab, ‹eine ehemalige Hure›. Von ihm stammte Boas ab, der Vater Obeds – die Mutter war Rut, ‹eine Moabiterin›. Von Obed stammte Isai ab, und der wurde der Vater von König David. David war der Vater Salomos – dessen Mutter aber die Frau Urijas.
Matthäus 1,4-6; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Diese Aufzählung ist eigentlich ein Skandal. Eine Prostituierte, eine Moabiterin, ein Ehebrecher und Mörder in der Ahnenreihe des Messias. Das Matthäusevangelium sagt uns, dass Rahab kein Schattendasein in der israelitischen Gesellschaft führte.
Trotz ihrer fragwürdigen Vergangenheit sah ein junger Mann namens Salmon in Rahab eine wunderschöne, gläubige Frau und hielt bei ihrer Familie um ihre Hand an. Sie bekamen einen Sohn, den sie Boas nannten. Boas wiederum, möglicherweise beeinflusst vom beachtlichen Mut seiner Eltern, heiratete Rut, eine besitzlose Witwe aus Moab. Ihr Urenkel war kein Geringerer als König David.
Rahab, die nun keine Prostituierte mehr war und nicht in den untersten Rängen der kanaanitischen Gesellschaft ums Überleben kämpfen musste, wurde zu einem Mitglied der hebräischen Gesellschaft. Mit der Zeit vergaß man, dass sie einmal eine Hure gewesen war. Man kannte sie als Rahab, Frau des Salmon. Oder als Rahab, Mutter von Boas.
Schließlich wurde sie zu einer herausragenden Figur der hebräischen Geschichte, zu einer Stammmutter von Königen, zu einer Vorfahrin der größten Dynastie, die die Welt jemals kennen wird. Darüber hinaus sollten die irdischen Eltern des Messias, des Königs der Könige, aus ihrer Linie stammen.
Die nachfolgenden Generationen würden Rahab als eine der glücklichsten Frauen bezeichnen, die jemals in Gottes Barmherzigkeit Zuflucht gesucht hatten. Letzten Endes empfing Rahab viel mehr, als sie aufgegeben hatte. Gott hatte ihr mehr Gnade und Gunst erwiesen, als sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte.
Rahabs Geschichte, die in ihrer Dramatik fast an ein Märchen erinnert, illustriert die Schönheit und das Wunder von Gottes Gnade. Bevor die Israeliten an den Stadtmauern von Jericho auftauchten, wurde sie von ihren Nachbarn, Mitbürgern, Kunden und selbst ihren Eltern als Hure abgestempelt. Vielleicht war in Jericho solch ein Etikett nicht so anrüchig wie heute, doch ich zweifle nicht daran, dass auch sie spürte, wie unwürdig ihre Beschäftigung war.
In der Regel wird eine Frau nur dann zur Prostituierten, wenn die Umstände sie dazu zwingen, ganz unabhängig von ihrer Kultur und Religion. Doch als Rahab die Wahl hatte, zusammen mit ihren heidnischen Landsleuten zu sterben oder sich Gott auszuliefern, entschied sie sich für Letzteres. So bekam sie ein neues Etikett: Rahab, Mutter der Könige.
In mancher Hinsicht ist Rahabs Geschichte unsere Geschichte.
Jeder von uns trägt ein Etikett mit sich herum. Vielleicht hast du es schon dein ganzes Leben vor den Blicken anderer Menschen verborgen und möchtest, dass es geheim bleibt. Es gibt die, die darauf achten, dass Menschen aus ihrer Vergangenheit nicht mit den Menschen in Kontakt kommen, die sie heute kennen. Es gibt solche, die versuchen, möglichst nicht allzu viele alte Erinnerungen hochkommen zu lassen, weil sie und das alte Etikett schmerzhaft sind.
Und solch ein Etikett kann sogar verhindern, sich von Gottes Gnade ansprechen zu lassen. Es kann der Grund sein, dass Menschen nur ungern einen Fuß in die Kirche setzen. Wenn du dich da angesprochen fühlst oder dich da wiederfindest, denke doch einmal über das Folgende nach:
Es ist doch interessant, dass von den Schreibern der Bücher des Alten Testaments keiner Rahabs Lebensstil auch nur mit einem Wort kommentiert.
Sie boten ihr an, ihr und ihrer Familie Leben zu retten. Dass sie ihre Beschäftigung aufgeben sollte, war nicht Teil ihrer Abmachung.
Man diskutierte nicht einmal darüber, ob sie ihr Leben ändern sollte.
Sie erkannte Israels Gott als den mächtigsten Gott überhaupt an und versteckte dann die Kundschafter aus seinem Volk.
Das war alles. Rahabs Etikett war für Gott kein Hindernis. Und das Etikett, das man dir auf die Stirn geklebt hat, ist es ebenso wenig!
Die Vergangenheit, das Versagen, die Selbstverachtung, der ganze Sumpf, in dem ein Mensch versinken könnte, sind kein Hindernis für Gottes Gnade. Wie Rahab bist auch du in Gottes Familie eingeladen, so wie du bist, mit deinem Etikett und deiner ganzen Lebensgeschichte. Wie Israel bist auch du eingeladen, eine Beziehung mit Gott einzugehen, die auf Vertrauen gründet, nicht auf der Befolgung von Regeln.
So ist die Gnade. Und so war sie von Anfang an. Gnade fordert von einem Menschen nicht, zuerst das beschämende Etikett abzulegen, sondern die Gnade versetzt uns überhaupt in die Lage dazu. Gnade fordert nicht, Gnade hilft uns.
Wenn wir uns Rahabs Geschichte ansehen und daran denken, wie viel Geduld Gott mit den Völkern hatte, die das Gelobte Land bewohnten, wird die Botschaft unmissverständlich klar: Die Gnade urteilt langsam und rennt uns mit offenen Armen entgegen.
Das trifft auch für die persönliche Ebene zu. In Bezug auf die Etiketten, die du mit dir herumschleppst oder herumgeschleppt hast, gilt: Gott urteilt langsam, ist aber gerne bereit, dich schnell zu retten. Und zwar nicht erst, wenn du dich von den Etiketten, die dir peinlich sind, befreit oder distanziert hast, sondern sofort, wenn du dich von der Gnade ansprechen lässt.
Gnade verleiht dir sogar neue Etiketten: Vergeben. Angenommen. Geliebt.
Wir wissen nicht, wie lange es dauerte, bis Rahab ihre Vergangenheit endgültig abgeschüttelt hatte. Wir wissen nicht, wie lange es dauerte, bis sie sich selbst nicht mehr durch die Brille ihres früheren Verhaltens sah. Ich vermute, dass das ein längerer Prozess war, der jedoch schließlich damit abgeschlossen wurde, dass sie sich über ihr neues Leben, ihre neue Identität und ihr neues Verhältnis zu Gott freute.
Ebenso kann es auch einige Zeit dauern, bis du dein Etikett ein für alle Mal ablegen kannst. Ich möchte dir jedoch Mut machen, in der Zwischenzeit dein Leben und Denken an die neuen Etiketten anzugleichen, die du durch Gottes Gnade erhalten hast. Alte Etiketten lösen sich nicht so schnell ab. Und manchmal dauert es eine Weile, bis die neuen Etiketten richtig haften.
Aber ich versichere dir, dass Gottes Gnade mächtiger ist als deine Etiketten. Jesus starb, damit Gott sich mit dir versöhnen konnte. Alles, für das dein altes Etikett stand, ist weg. So weit weg, wie der Osten vom Westen entfernt ist.
Glaube einfach, dass Gott dir ein neues Etikett verleiht. Vergeben. Angenommen. Geliebt.
Bekenne dich zu dem, was Gott über dich sagt.
Dir ist vergeben.
Du bist angenommen.
Du wirst geliebt.
Lass Jesus, das Leben – dein Leben – sein Leben in dir und durch dich leben und erfahre, wie mächtig Gottes Gnade ist.