Der Gnade auf der Spur 9

Gnade trifft Aasgeier!


Gnade befreit den Ungerechten und bedroht den Selbstgerechten.

Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich manche Leute in der Gegenwart eines »Geistlichen« nicht besonders wohlfühlen? Wenn sie erfahren, wie der Mensch ihnen gegenüber seinen Lebensunterhalt verdient, wirken sie auf einmal sehr gehemmt.
Männern ist peinlich, dass sie geflucht haben.
Damen zupfen an ihrem Rock oder Kleid herum.
Das Whiskeyglas wird irgendwo ins Abseits geschoben.
Raucher drücken ihre Zigarette aus.
Oder schlimmer noch, sie versuchen, sie zu verbergen. Nicht die Schachtel, sondern die angezündete Zigarette.
Viele Menschen mögen die Nähe von »Geistlichen« nicht. Offensichtlich scheinen sie als eine Art »Übergewissen« wahrgenommen zu werden.
Bei dem »Rabbi« Jesus vor 2.000 Jahren war das völlig anders? Matthäus berichtet:
Große Menschenmassen folgten ihm …
Matthäus 4,25; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Oder Lukas:
Eines Tages stand Jesus am See Genezareth, und eine große Menschenmenge drängte sich um ihn. Alle wollten Gottes Botschaft von ihm hören.
Lukas 5,1; Hoffnung für alle, 2015

… die Menschen folgten Jesus überallhin und achteten auf jedes seiner Worte.
Lukas 19,48; Hoffnung für alle, 2015
Menschen, die das krasse Gegenteil von Jesus waren, mochten ihn. Die Unfrommen luden Jesus zu sich nach Hause zum Essen ein. Und damit das Haus voll werde, kamen auch noch die gottfernen Freunde dazu.
Über einen Mann, von dem wir später mehr hören, wird berichtet:
Levi gab Jesus zu Ehren in seinem Haus ein großes Fest. Zusammen mit Jesus und seinen Jüngern nahmen zahlreiche Zolleinnehmer und andere ´Leute von zweifelhaftem Ruf` an dem Essen teil.
Lukas 5,29; Neue Genfer Übersetzung, 2011
Der Rabbi und »Maschiach« Jesus fühlte sich wohl in der Gemeinschaft derer, die als Sünder abgestempelt und ausgegrenzt waren. Jesus – der Mensch gewordene Gott – mischte sich unter die Leute, die durch ihr Leben zeigten, dass sie Gott fern waren.
Diese Menschen suchten Jesus’ Gesellschaft. Sie wurden buchstäblich von Gottes Gerechtigkeit in Person angezogen. Als wäre das an sich nicht schon seltsam genug: Jesus sprach diesen nicht allzu frommen und gesetzestreuen Menschen immer wieder eine Einladung aus.
Aber es war nicht die Aufforderung, seine Sünden zu bekennen und zu bereuen und als Strafe zehnmal das »Vaterunser« zu beten, wie wir vielleicht erwarten würden. Jesus sagte schlicht und einfach: »Folge mir nach.«
Johannes gehörte mit zu Jesus’ ersten Nachfolgern. Er erlebte hautnah, wie Jesus auf die Menschen einging, die im religiösen System keinen Platz hatten. Zusammen mit Jesus ging er auf Partys bei Leuten, vor denen ihn seine Mutter immer gewarnt hatte. Jesus nachzufolgen bedeutete für seine Jünger, dass sie ihre fromme Komfortzone verlassen mussten. Das passierte so oft, dass sie das Gefühl haben mussten, sie wenden sich von ihrer Religion ab. Jesus war ganz anders als die anderen Rabbis. Er war so lebensbejahend.
Obwohl Jesus außergewöhnlich auf Gott – den er seinen Vater nannte – fixiert war, verbrachte er kaum Zeit mit Israels religiöser Führungselite.
Ob er in der Synagoge lehrte, oder mit stadtbekannten Sündern bei einer gemeinsamen Mahlzeit zu Tische lag, er offenbarte eine ganz neue Sicht von Gott.
Durch das, was Johannes in den dreieinhalb Jahren mit Jesus erlebt hatte, kam er zu dem Schluss, dass dieser Jesus wirklich Gottes Sohn – der von Gott zugesagte Messias – und Retter der Welt war.
Er, der das Wort ist, wurde ein Mensch von Fleisch und Blut und lebte unter uns. Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit, wie nur er als der einzige Sohn sie besitzt, er, der vom Vater kommt.
Johannes 1,14; Neue Genfer Übersetzung, 2011
»Eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit«.
Jesus lebte beides in Vollendung. Beides war er 100 %. Er war ein authentischer Botschafter für Gottes Gerechtigkeit. Johannes hatte es mit eigenen Augen gesehen. Er hatte erlebt, dass Jesus jedem einzelnen Menschen mit dieser vollkommenen Einheit aus Gnade und Wahrheit begegnet war.
Und er war dabei gewesen, als Jesus einen aus der Reihe tanzenden Mann gnädig einlud, ihm nachzufolgen. Das war wohl einer der ungewöhnlichsten Kandidaten, den man sich damals für die Jesusnachfolge vorstellen konnte: Es war ein Steuereintreiber namens Levi.
Und wenn der damals in die Jesusnachfolge gerufen worden ist, dann ist auch heute keiner ausgeschlossen.
Levi hatte sich einer verachtenswerten Tätigkeit verschrieben, und das wusste er. Das war vermutlich auch der einzige Punkt, in dem die mehr und weniger frommen Leute in Israel mit ihm einer Meinung waren. Er trug einen alten, herausragenden hebräischen Namen, israelisches Blut floss in seinen Adern, er hatte Jahrhunderte jüdischer Kultur und Religion mit der Muttermilch aufgesogen. Dennoch muss er sich im »Gelobten Land« völlig fehl am Platz gefühlt haben.
Seine Eltern hatten ihn sicher gelehrt, sich die Frömmigkeit der Pharisäer als Vorbild zu nehmen. Doch er hatte ihr heuchlerisches Getue durchschaut und war davon angewidert.
Die Pharisäer waren eine konservativ-religiöse Laienbewegung, die sich darum bemühte, der Thora – den 5 Mosebüchern – im Denken und Leben des »normalen« Volkes Geltung zu verschaffen. Diese Männer schienen tiefgläubig zu sein. Aber sie machten aus ihrer Religion eine öffentliche Show. Neben dem Thorastudium waren Reinigungsrituale sehr wichtig, denn alle sollten sehen, dass sie die Gesetzesvorschriften peinlich genau beachteten.
Es blieb nicht viel Zeit übrig, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Pharisäer und Rabbis wurden darum oft durch die Unterstützung ihrer Schüler oder wohlhabender Anhänger finanziert. Dies geschah nicht in Form von Gehältern, sondern eher durch Spenden, Gastfreundschaft und indirekte Unterstützung, die es den frommen Männern ermöglichte, sich dem Studium und der Lehre zu widmen.
Sie waren auf Zuwendungen aus der Bevölkerung angewiesen. Und da entdecken wir etwas Eigenartiges.
Mit der einen Hand nahmen sie von den Leuten deren hart erarbeitetes Geld entgegen, mit den Fingern der anderen zeigten sie verächtlich auf ihre Wohltäter. Das wird in einer von Johannes berichteten Begebenheit deutlich. Jesus sollte verhaftet werden. Die Tempelwache traute sich aber nicht. Die Männer bekommen zu hören:
„Hat er euch denn auch verführt?“, herrschten die Pharisäer sie an. „Glaubt denn ein einziger von den Oberen oder den Pharisäern an ihn? Das macht doch nur dieses verfluchte Volk, das keine Ahnung vom Gesetz hat!“
Johannes 7,47-49; Neue evangelistische Übersetzung, 2025

Dann gab es noch die Sadduzäer. Sie waren eine priesterliche und aristokratische Partei. Die Sadduzäer hatten sich mit der unfreien Lebenssituation in Israel arrangiert.
Die Römer herrschten über das Land, und in den vorangegangenen zweihundert Jahren hatte es noch kein Volk geschafft, sich aus der Umklammerung der römischen Besatzer zu befreien. Deshalb gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder begehrte man gegen den Cäsar auf, der mit eiserner Hand regierte, und bezahlte den Versuch mit dem Tod, oder man schwamm mit dem Strom.
Die Sadduzäer hatten sich ganz offen für die zweite Möglichkeit entschieden. Doch sie schwammen nicht nur mit dem Strom, sondern hatten auch noch entdeckt, wie sie diese bedauerliche Situation zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Die Erwartung eines freien Staates Israel hatten sie niemals aufgegeben. Doch im Moment sahen sie in der Kooperation mit den Römern die einzige realistische Möglichkeit, das Beste aus der Lage zu machen.
Rom wollte Kontrolle und die Juden wollten ihre Ruhe. Die Sadduzäer kamen den Bedürfnissen beider Seiten entgegen. Im religiösen Bereich förderten sie durch den Tempeldienst die jüdische Identität und das Gefühl einer gewissen Eigenständigkeit. Als politische Akteure vertraten sie dagegen die römischen Interessen und wurden dafür gut bezahlt. Es war wohl so, dass diese Aristokraten ihre Zeit besser als irgendjemand anderes erkannt haben und zu nutzen wussten.
Vielleicht wollte Levi sich nur gegen Vorwürfe verteidigen, aber er konnte die unverblümte Gier der Sadduzäer leichter akzeptieren als die Heuchelei der Pharisäer. Und er wollte auch etwas von dem Kuchen abhaben. Das ging am besten als Steuereintreiber.
Inhaber dieses Postens wurden im gesamten Römischen Reich gehasst, weil sie unweigerlich korrupt waren. Die Steuern und Zölle in den von Rom besetzten Ländern wurden nicht direkt von Staatsbeamten eingezogen. Die beherrschten Provinzen waren in Regionen aufgeteilt, in denen die Rechte zum Einziehen von Steuern und Zöllen an den Meistbietenden vergeben wurden. Das war der eigentliche »Zollpächter«.
Die bekannten »Zöllner« oder »Steuereintreiber« in den Evangelien – wie Matthäus oder Zachäus – haben dann ihrerseits Inkassorechte vom Zollpächter gekauft. Sie waren es dann auch, die den direkten Kontakt zur Bevölkerung hatten und die tatsächlichen Abgaben kassierten.
Obwohl es von Rom festgelegte Tarife für Steuern und Zölle gab, war das System anfällig für Betrug. Kaum einer außer den Steuereintreibern kannte die Tarife. Wer Abgaben einkassierte, verlangte meist mehr, als gesetzlich gefordert war. Denn jeder in der Kette wollte doch reich werden. Für die Gewinnmaximierung musste der Steuereintreiber den Menschen genug Furcht einflößen, damit der Geldstrom nicht versiegt. Andererseits aber musste er vermeiden, so sehr zur Zielscheibe des Hasses zu werden, dass man ihn umbrachte.
Für die Juden in Israel war die manipulierte Buchführung noch die geringere Sünde der Steuereintreiber. Der Hauptgrund für die Verachtung der Zöllner war ihre Zusammenarbeit mit der verhassten römischen Besatzungsmacht. Sie galten als Kollaborateure und Verräter am eigenen Volk. Sogar die Sadduzäer blickten verächtlich auf den Steuereintreiber als widerwärtiges, aber notwendiges Übel hinab.
Durch ihren ständigen Kontakt mit »Sündern« und Nichtjuden, wie z. B. den Römern und Händlern, galten sie als kultisch unrein. Wer kultisch unrein war, durfte nicht am Tempelkult teilnehmen. Und er wurde von frommen Juden gemieden. Denn wer mit etwas Unreinem in Berührung kam, verunreinigt sich selbst. In der jüdischen Gesellschaft wurden Zöllner oft auf eine Stufe mit Dieben, Räubern, Prostituierten und anderen »Sündern« gestellt. Sie waren gesellschaftlich geächtet.
Levi, der Steuereintreiber, war nach Jakobs drittem Sohn benannt, dem Stammvater des Stammes Levi. Ich nehme an, dass der Steuereintreiber Levi selbst ein Levit war. Während der Lagerung am Berg Sinai hielt dieser Stamm Gott die Treue, die elf anderen tanzten um ein goldenes Kalb.
Mose und Aaron waren Leviten. Gott legte fest, dass Aarons Nachkommen den Priesterdienst ausüben. Die anderen Leviten sollten den Dienst am Heiligtum verrichten und das Volk Israel im Gesetz unterrichten.
In der religiösen Tradition des Judentums wurde die Rolle der Priester immer wichtiger, vor allem, nachdem unter König Salomo der Tempel erbaut worden war. Die Priester waren die Vermittler zwischen Gott und Mensch. Der »Sünder« ging mit seinem Opfer zum Priester, der es dann Gott darbrachte.
Ein Steuereintreiber in Juda war in seiner Funktion einem Priester ähnlich. Er war ein Bindeglied zwischen dem römischen Staat und der jüdischen Bevölkerung.
In der zutiefst religiösen jüdischen Kultur müssen Levi die Schuldgefühle wie sein Schatten verfolgt haben. Jedes Mal, wenn er seinen Namen niederschrieb, wurde er daran erinnert, wozu er eigentlich bestimmt war und was stattdessen aus ihm geworden war. Gleichzeitig aber bestätigte ihn das Verhalten der sogenannten Frommen in seiner Verachtung für die heuchlerischen Traditionen und die verknechtenden Regeln. Er wusste nur zu gut, was hinter den Kulissen vor sich ging. Er hat mitbekommen, dass viele religiöse Führer ebenso korrupt waren wie er selbst. Es stimmte schon, er war ein Sünder. Aber ein Heuchler war er nicht.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund stell dir nun einmal Levis Überraschung vor, als ihn der berühmteste und dynamischste Rabbi aus ganz Galiläa aufforderte, ihm nachzufolgen und sein Schüler zu werden. Einen Mann, um den die meisten Menschen und speziell die frommen einen großen Bogen machten, musste das völlig aus der Fassung gebracht haben.
Doch Jesus’ Einladung war nur der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Erfahrungen mit Gottes Gnade, die schließlich dazu führten, dass aus Levi ein ganz neuer Mensch wurde. Selbst seinen Namen änderte er. In die Geschichte der Bibel sollte er als Matthäus – »Jahwes Geschenk« – bekannt werden. Er wurde der Verfasser des ersten Evangeliums. Das war dann ein Bericht über Jesus’ Leben aus jüdischer Perspektive.
Zum ersten Mal begegneten sich Matthäus und Jesus, als der mit seinen Jüngern Kafarnaum besuchte. Dieser belebte Fischerhafen lag am nordwestlichen Ufer des Sees Genezareth und war zu einem Mittelpunkt des jüdischen Lebens in der Region geworden. Als Jesus dort lehrte, unternahmen vier Männer große Anstrengungen, um ihren gelähmten Freund zu Jesus zu bringen, damit er ihn heilte.
Die Menge wartete gespannt, was Jesus tun würde. Unter ihnen befanden sich religiöse Führer und gebildete Schriftgelehrte. Vor ihren Augen beugte sich Jesus zu dem gelähmten jungen Mann und sagte etwas völlig Unerwartetes, das mit der augenblicklichen Situation offenbar absolut nichts zu tun hatte:
Hab Vertrauen, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!
Matthäus 9,2; Einheitsübersetzung, 2016
So interessant das auch sein mochte – das war nicht der Grund gewesen, weshalb die Männer sich so viel Mühe gegeben hatten, ihren Freund zu Jesus zu bringen. Sie hatten mehr etwas in der Richtung erwartet wie: »Sei geheilt!«, oder: »Lähmung, weiche!« Mit den Sünden dieses Mannes konnte sich doch ein Priester im Tempel in Jerusalem befassen, wenn der Mann wieder gesund war. Dieser Rabbi und Wunderheiler Jesus sollte sich um die Lähmung ihres Freundes kümmern.
Doch sie waren nicht die Einzigen, die sich an Jesus’ Worten stießen. Auch in den Frommen kochte es hoch; seine Antwort war empörend. Für sie war das pure Gotteslästerung, denn es ist doch klar, dass nur Gott Sünden vergeben konnte. Wenn Jesus also sagte: »Deine Sünden sind dir vergeben«, vergeht er sich damit entweder an Gottes Autorität oder er stellte sich auf eine Stufe mit Gott.
Bevor sie dazu kamen, ihren Unmut in Worte zu fassen, brachte Jesus das sich anbahnende Drama zu einem jähen Ende und sagte:
„Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!“
Matthäus 9,6; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Ich frage mich, ob er sich bei dem Mann und seinen vier Freunden nicht einen kleinen Scherz erlaubte? Er wusste, warum sie da waren. Und er wusste, wer ihn argwöhnisch belauerte. Also ging er mit zwei denkwürdigen Aussagen auf die unmittelbaren und die tiefliegenden verborgenen Bedürfnisse des Mannes ein.
Jesus sagte, was nur Gott sagen kann, und er tat, was nur Gott tun kann.
Der Mann nahm seine Matte und ging nach Hause. Ich nehme an, die Leute waren beeindruckt und geschockt.
Als das passierte, saß Levi, bzw. Matthäus, noch an der Grenze an seinem Schreibtisch und kassierte Steuern und Zölle. Er legt allerdings Wert darauf, uns mitzuteilen, dass er wenig später selbst Jesus begegnete.
Als Jesus von der Stelle wegging, wo das geschehen war [die Heilung des Gelähmten], fiel sein Blick auf einen Mann, der an der Zollstation saß. Sein Name war Matthäus.
Matthäus 9,9; Das Buch, 2022
An diesem Punkt der Geschichte müssen Matthäus’ jüdische Leser aufgehorcht haben. Der Abschaum der Gesellschaft, ein Verräter am eigenen Volk, ein kultisch unreiner moralischer Versager sitzt vor seinen Büchern, in denen er seine krummen Geschäfte festhält.
Die Gerechtigkeit in Person, der Mensch gewordenen Gott, Israels Maschiach sieht den Zöllner. Was wird die personifizierte »Heiligkeit« wohl zu einem Mann sagen, der seine Seele an die Römer für das Recht verkauft hatte, seine Landsleute zu bestehlen?
Vergessen wir nicht, dass Jesus nicht allein unterwegs war. Bei ihm waren seine Jünger, darunter auch Jakobus und Johannes, die einmal Feuer vom Himmel auf eine Stadt fallen lassen wollten, weil man Jesus dort nicht freundlich aufgenommen hatte.
Auch Petrus, der häufig den Mund aufmachte, ohne vorher nachzudenken, und sein Bruder Andreas gehörte zu der Gruppe.
Wir wissen nicht, wann Simon, der Zelot, dazukam. Doch sein Beiname weist darauf hin, dass er einst zu solchen Männern gehört hatte, die Römer und Mitarbeiter der römischen Besatzer und andere Leute wie Matthäus umgebracht hatten.
Wie werden sie auf den Steuereintreiber reagieren? Was werden sie zu Levi sagen? Lassen sie ihrer Wut freien Lauf? Bevor jedoch jemand ein Schimpfwort ausstoßen und/oder verächtlich auf den Boden spucken konnte, sagte Jesus zu Levi:
Folge mir nach.
Matthäus 9,9
»Äh?«
Das waren übrigens genau die Worte, mit denen Jesus Jakobus, Johannes, Petrus, Andreas und vermutlich auch Simon eingeladen hatte. Doch die Einladung dieser Männer zur Nachfolge ergab einen Sinn. Sie kamen alle aus frommen jüdischen Familien, die in Kapernaum lebten und dort zur Synagoge gingen. Es handelt sich um hart arbeitende Juden aus der Mittelschicht, die Gott und ihrem geistlichen Erbe die Treue gehalten hatten. Zweifellos beteten sie für die Ankunft des Messias, und Simon war sogar bereit, für die Befreiung der Nation zu kämpfen.
Stelle dir also mal vor, was in diesen Männern vorgegangen sein muss, als Jesus einen verabscheuungswürdigen Steuereintreiber einlud, sich dem engsten Jüngerkreis anzuschließen. Einer von ihnen zu werden. Sie müssen heftig geschluckt haben oder Schlimmeres.
Viele Jahre nach Jesus’ Auferstehung, schrieb Matthäus seinen Bericht von Jesus’ Leben. Es war die Geschichte, wie es kam, dass der Messias einer Welt vergab, die krank vor Sünde war. Wie Jesus Menschen rettete, bei denen nach Meinung der meisten Menschen Rettung gar nicht mehr möglich war.
Trotz seines gespannten Verhältnisses zum traditionellen Judentum erzählte Matthäus diese Geschichte von Jesus aus einem konsequenten jüdischen Blickwinkel. Im Gegensatz zum Markus oder Lukasevangelium, die den Leser sofort in die temporeich erzählte Handlung mitnehmen, beginnt das Matthäusevangelium so:
Buch des Ursprungs von Jesus Christus, dem Sohn Davids, der ein Nachkomme Abrahams war. Abraham wurde der Vater von Isaak, Isaak der von Jakob und Jakob der von Juda und seinen Brüdern. Juda wurde der Vater von Perez und Serach – die Mutter war ‹seine Schwiegertochter› Tamar. Perez wurde der Vater von Hezron und Hezron der von Ram. Ram wurde der Vater von Amminadab, Amminadab der von Nachschon, Nachschon der von Salmon. Salmon heiratete Rahab, ‹eine ehemalige Hure›. Von ihm stammte Boas ab, der Vater Obeds – die Mutter war Rut, ‹eine Moabiterin›. Von Obed stammte Isai ab, und der wurde der Vater von König David. David war der Vater Salomos – dessen Mutter aber die Frau Urijas.
Matthäus 1,1-6; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Nicht gerade die spannendste Art, eine Geschichte anzufangen. Kein moderner Schriftsteller würde auch nur im Traum daran denken, seine ersten Sätze so zu wählen. Trotzdem erstreckt sich Jesus’ Stammbaum, den Matthäus hier auflistet, über sechzehn Verse. Er beginnt mit Abraham und verfolgt die Linie bis hin zu Josef, Marias Mann.
Aber warum? Warum begann Matthäus seine Erzählung so?
Wenn eine jüdische Leserschaft auch nur in Erwägung ziehen sollte, dass Jesus der Messias sein könnte, musste man sie überzeugen, dass er von den richtigen Leuten abstammte. Matthäus wusste, dass er Jesus nicht nur mit den üblichen Verdächtigen Abraham, Isaak und Jakob in Verbindung bringen musste, sondern auch mit den Königen in Juda. Matthäus peppte seine Liste mit einigen Frauen von zweifelhaftem Ruf auf.
Er wollte die Geschichte der Gnade in epischer Breite erzählen. Eine Geschichte, die für viele seiner jüdischen Leser sonst scheinbar nichts mit dem Alten Testament zu tun gehabt hätte. Seine Geschichte sollte Gott in einem scharfen Kontrast zu dem darstellen, wie die jüdischen religiösen Führer des ersten Jahrhunderts ihn beschrieben haben.
Er wollte in seinem Evangelium ins Bewusstsein rücken, dass Gott die Nichtjuden genauso liebte wie die Juden. Seine Gnade ist mächtiger als die schrecklichsten Sünden.
Israels Geschichte offenbart, dass Gott völlig unakzeptable Menschen erwählte und gebrauchte. Vielleicht war es dieser Gedanke, der Matthäus bewog, sein Evangelium eng mit dem Alten Testament zu verknüpfen. Denn auch er gehörte zu diesen völlig ungeeigneten Menschen. Er schrieb also diesen Stammbaum nieder, um zu zeigen, welches Ziel Gott verfolgte, als er in der Person Jesus auf diese Erde kam.
Matthäus wusste, dass Jesus’ Geschichte Gottes Geschichte ist, der denen nahe kommt, die durch die Sünde von ihm getrennt wurden. Aus diesem Grund zeigt uns Matthäus einen sehr ungewöhnlichen Stammbaum. Jesus, ein echter Jude, von königlicher Abstammung, hatte offensichtlich kein Problem damit, »unwürdige« Frauen in seiner Ahnenlinie zu haben.
Dann ist es auch absolut keine Herausforderung für ihn, dich und mich in die Nachfolge zu rufen.
Denn er ruft jeden, der verzweifelt Gottes Gnade braucht.