Der Gnade auf der Spur 10

Gnade kann so peinlich sein!


Der Apostel Matthäus – ehemals Levi – war nicht der Erste, der in die Geschichte eines bedeutenden Menschen eine Aufzählung der Ahnen eingefügt hat. Doch seine provozierenden und in manchen Fällen peinlichen Andeutungen sind schon ungewöhnlich.
Im Altertum wurden die Lebensgeschichten von Herrschern, Generälen und Politikern meistens als Auftragsarbeit von Schriftstellern verfasst. Pflicht war, ihren Auftraggeber im allerbesten Licht darzustellen. Dabei spielte es keine Rolle, ob einige positive Einzelheiten übertrieben oder sogar hinzugedichtet wurden. Hauptsache war, ihnen einen guten Platz in der Geschichte zu sichern.
Solche Auftragsarbeiten haben naturgemäß Schwachstellen. Charaktermängel, Versagen, Niederlagen und Dreck am Stecken werden nur beiläufig erwähnt, als Bagatelle abgetan und manchmal völlig unter den Teppich gekehrt. Kinder, die die Familie mit Stolz erfüllen, werden natürlich immer erwähnt. Und von Kindern, die nicht so gut geraten sind, hört man selten etwas.
Wenn also der Stammbaum manipuliert wurde, wollte man sich besser machen als man war.
Im Volk Israel waren Stammbäume sehr wichtig. Man brauchte sie, um Ansprüche auf Grundbesitz nachzuweisen oder seine Rechte als Thronfolger geltend zu machen.
Als Matthäus aufschrieb, wer von wem abstammte, wäre es verständlich gewesen, und keiner hätte sich daran gestört, wenn er bedeutende Namen besonders hervorgehoben hätte. Namen, die unangenehme Erinnerungen weckten oder ein positives Bild verzerrten, sollten doch besser unerwähnt bleiben.
Doch Matthäus hatte sich etwas anderes zum Ziel gesetzt. Er legte großen Wert darauf, dass auch die Personen in Jesus’ Stammbaum sichtbar werden, die viele lieber verschwiegen hätten. Statt peinliche Begebenheiten mit Schweigen zuzudecken, machte er extra darauf aufmerksam.
Und der Übersetzer fügte noch den Beziehungsstatus hinzu:
Buch des Ursprungs von Jesus Christus, dem Sohn Davids, der ein Nachkomme Abrahams war.
Abraham wurde der Vater von Isaak, Isaak der von Jakob und Jakob der von Juda und seinen Brüdern.
Juda wurde der Vater von Perez und Serach – die Mutter war ‹seine Schwiegertochter› Tamar.
Matthäus 1,1–3; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Der Zusatz »und seinen Brüdern« ist für die Ahnenfolge völlig unwichtig.
Matthäus muss also etwas anderes im Sinn gehabt haben, als nur eine Namensliste von Jesus’ Vorfahren aufzuschreiben. Mit diesem Zusatz erinnert er seine jüdischen Leser daran, wie schändlich Juda und seine Brüder Josef behandelt haben.
Er rief ins Gedächtnis, dass Josef – auch wenn er manchmal ziemlich überheblich sein konnte – moralisch besser war als seine Brüder. Juda dagegen war ein Lügner, Betrüger und ein Mann ohne Gewissen.
Aus Gründen, die uns nicht offenbart worden sind, entschied sich Gott dennoch für Juda, dass er Vorfahre der Leiheltern des Messias Jesus sein soll.
Dadurch, dass Matthäus peinliche Namen in Jesus’ Stammbaum einfügte, rief er seinen Lesern ins Bewusstsein, dass die Ahnenreihe des Messias Auffälligkeiten aufwies.
Wir, im 21. Jahrhundert, haben wahrscheinlich kein Problem damit, dass eine Frau erwähnt wird.
Das war in der Antike ganz anders. Eine Frau war Besitz eines Mannes und zählte nicht viel. Was hat eine Frau daher in einer Liste von Vorfahren zu suchen? Und wenn schon eine Frau, warum dann ausgerechnet sie?
Mit Tamars Erwähnung wird doch nur die alte und peinliche Geschichte wieder aufgewärmt, wie Juda seine Schwiegertochter belogen und hingehalten hat. Und Perez und Serach wären niemals geboren worden, wenn Tamar ihren Schwiegervater Juda nicht reingelegt hätte.
Diese schräge Episode hinderte Gott aber nicht, an seinem Heilsplan festzuhalten. Die messianische Linie setzte sich mit Serach fort, einem Sohn, den Juda mit Tamar, seiner Schwiegertochter, einer Kanaaniterin, gezeugt hatte.
Matthäus lässt in seiner Ahnentafel von Jesus eine weitere Frau nicht aus:
Salmon heiratete Rahab, ‹eine ehemalige Hure›.
Matthäus 1,5; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Warum noch so ein peinliches Detail?
Rahab stammte genauso wenig wie Tamar aus dem Volk Israel. Rahab war eine Prostituierte aus Jericho. Ihre »fromme Leistung« bestand darin, dass sie zwei israelitische Spione beherbergt und vor der Verhaftung bewahrt hat.
Matthäus hielt es offensichtlich für wichtiger, sie in Jesus’ Stammbaum zu nennen als ehrbare, hochgeachtete hebräische Frauen, wie zum Beispiel Sara und Rebekka.
Die Heidin Rahab vertraute dem ihr unbekannten Gott. Sie nahm sein unverdientes Geschenk »Gnade« an. Das reichte, um die Frau und ihre Familie zu retten. Aus Gnade wurde sie ein geachtetes Mitglied im Volk Israel. Gottes Gnade machte sie zur Vorfahrin von Königen bis hin zum Messias Jesus.
Matthäus geht weiter durch Jesus’ Stammbaum:
Salmon heiratete Rahab, ‹eine ehemalige Hure›. Von ihm stammte Boas ab, der Vater Obeds – die Mutter war Rut, ‹eine Moabiterin›. Von Obed stammte Isai ab, und der wurde der Vater von König David.
Matthäus 1,5–6; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Die Geschichte von Rut ist wunderschön. Ruts liebevolle Aufopferung für ihre Schwiegermutter Noomi ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Gnade aussehen kann. Wir haben sicher ihr Bekenntnis im Ohr:
Denn wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.
Rut 1,16; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Doch Rut war eine Moabiterin. Und das Gesetz sagt klipp und klar:
Dasselbe gilt für einen Ammoniter oder Moabiter. Sie sind für immer von der Gemeinde Jahwes ausgeschlossen, selbst noch in der zehnten Generation.
5. Mose 23,4; Neue evangelistische Übersetzung, 2025
Nach dem Gesetz hatte sie keine Chance, in Gottes Volk aufgenommen zu werden. Aber Gott steht über dem Gesetz. Sie wurde die Urgroßmutter von König David.
Matthäus gibt sich alle Mühe, seinen Lesern klarzumachen, dass Jesus, Gottes Sohn, Israels Messias, Vorfahren hatte, die es eigentlich gar nicht geben durfte.
Zwei weitere Namen verdienten es seiner Meinung nach, erwähnt zu werden:
David war der Vater Salomos; Salomos Mutter war [Batseba] die Frau des Urija.
Matthäus 1,6; Neue Genfer Übersetzung, 2011, Ergänzung von mir
David und Salomo hätten genügt, um Jesus’ königliche Abstammung zu belegen. Und jeder seiner jüdischen Leser kannte Salomo und Israels Geschichte. Doch Matthäus wollte sichergehen, dass niemand den Seitensprung ausblendet, in den David und Batseba verstrickt waren.
Deshalb schrieb er nicht: »Salomo war der weiseste Mann der Welt«, oder »Salomos Mutter war die Frau von David«. Stattdessen wählt Matthäus Worte, die die tödliche Affäre, in die David verwickelt war, noch betonten: »Batseba, die Frau des Urija«.
Matthäus hätte doch auch sagen können: »Batseba, die Witwe des Urija«. Tut er aber nicht, er sagt ungeschönt: »Batseba, die Frau des Urija«. Kein Leser sollte den Skandal übergehen können, wie Batseba Davids Frau wurde.
Unter den irdischen Vorfahren des Messias gab es einige nicht so ehrenhafte Figuren. Da waren Lügner, Betrüger, Bigamisten, Götzenanbeter und Gesetzesbrecher bei. Mörder, Sklavenhändler, Ehebrecher, Prostituierte, Ausgeschlossene usw.
Vielleicht hielt Matthäus mit einem Lächeln beim Schreiben inne und dachte: »Das waren Menschen wie ich es war«. Und Matthäus konnte bezeugen, dass alles an dem Tag verändert wurde, an dem Gottes Gnade ihn gerufen hat und er gefolgt ist.
Es wäre Heuchelei, Jesus’ sündige und alles andere als makellose Vorfahren zu verstecken. Gottes Gnade hat sie heil gemacht. Matthäus hat das aufgeschrieben, damit auch du die Gewissheit haben kannst, dass Gottes Gnade etwas Neues aus dir macht.
Für das religiös ausgerichtete Volk Israel gab es eine grundlegende Frage: »Was muss ich tun, um Gott zu gefallen? Wie komme ich mit Gott ins Reine?«
Das Lager der Frommen betonte, dass dazu das Gesetz zu beachten ist. Da das aber nachweislich keiner schafft, muss man die Taktik der Selbsttäuschung anwenden. Dazu werden die Gebote verwässert, damit das eigene Verhalten, das man ja nicht ändern will, nicht bloßgestellt wird.
Unten auf der Werteskala fanden sich die Menschen, die ihre Unfähigkeit nicht verstecken konnten. Wenn das Gesetz der Maßstab ist, dann haben sie keine Chance, sich Gottes Gunst zu verdienen. Und wenn das Gesetz die einzige Option ist, meidet man Gottes Nähe.
Jesus erzählte mit einem Gleichnis, wie Menschen mit Gott in Ordnung kommen. Zielgruppe sind zunächst die, die glauben, dass ihr Gutsein und ihre moralische Leistung reicht, um bei Gott Anerkennung und Fleißpunkte zu sammeln.
Selbstgerechtigkeit kann sich in Überlegenheitsgefühlen gegenüber anderen äußern. »Ich habe recht, du irrst dich. Ich bin besser als du.«
Jesus möchte da etwas über Gottes Werteskala klarstellen:
»Zwei Männer wanderten hinauf zum Tempel, um dort zu beten. Der eine war ein Pharisäer und der andere ein Steuereintreiber.
Der Pharisäer stand für sich allein und verrichtete sein Gebet mit diesen Worten: »O Gott, ich sage dir Dank, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen, die Räuber, Ungerechten, Ehebrecher und auch nicht wie dieser Steuereintreiber! Ich faste zweimal in der Woche und gebe ganz genau den zehnten Teil von allen meinen Einnahmen.‹
Aber der Steuereintreiber stand in der hintersten Reihe und wagte es nicht, seine Augen zum Himmel aufzuheben. Stattdessen schlug er sich mit der Faust auf die Brust und sagte: ›Gott, vergib mir! Denn ich bin ein Sünder, durch und durch.‹
Ich sage euch: Dieser Mann ging wieder vom Tempel nach Hause und hatte Gottes Vergebung erfahren, anders als der Pharisäer. Denn jeder, der sich selbst über andere erheben will, wird erniedrigt werden. Wer aber demütig ist, wird hoch erhoben werden.«
Lukas 18,10-14; Das Buch, 2022
Da stehen nun Vertreter zweier Gruppen im Tempel. Auf der einen Seite ist der, der sich für einen Supermann in seiner Religion hält, der aber bei Gott nicht so ankommt, wie er meint. Auf der anderen Seite ist derjenige, der weiß, dass er ein Versager ist, und der sich kaum traut, Gott anzusprechen.
Um eins klarzustellen, beide Männer sind Sünder.
Alle sind schuldig geworden und spiegeln nicht mehr die Herrlichkeit wider, die Gott dem Menschen ursprünglich verliehen hatte.
Römer 3,23; Hoffnung für alle, 2015
Der Tempel ist Symbol für Gottes Wunsch, mitten unter den Menschen zu wohnen und sie mit Liebe und Gnade zu überhäufen. Die blutigen Opfer erinnerten die Israeliten täglich daran, dass sie unfähig sind, sich die Gerechtigkeit, die bei Gott gilt, durch religiöse Leistung zu erarbeiten.
Offenbar hatte jedoch Gottes Volk Gottes Prinzip und sein Wesen und Handeln nicht begriffen. Die Selbstgerechten jagten die angeblichen Sünder fort, und die Sünder rannten, von Zweifeln am Selbstwert getrieben, immer weiter weg.
Doch dann erschien Jesus auf der Bildfläche.
Er sah diesen »Kampf« zwischen den Frommen, die ihrer Selbsttäuschung erlegen waren, und den Sündern, die nicht wussten, wie sie mit Gott ins Reine kommen konnten. Es gab keinen Sieger, nur Verlierer.
Jesus wollte die Selbstgerechtigkeit im Licht der Wahrheit entlarven und den Ungerechten den Weg zurück zu Gott zeigen.
Matthäus hatte solch einen Weg zurück mit Sicherheit nötig. Als Jesus sagte: »Folge mir nach«, war das wie eine Befreiung. Matthäus stand ohne zu zögern auf und ging mit Jesus.
Doch Jesus führte ihn nicht in den Tempel. Jesus brachte Matthäus nach Hause und ließ sich zum Essen einladen. Matthäus sagte allen seinen Freunden und Arbeitskollegen Bescheid, dass er eine spontane Party feiere und jeder eingeladen sei.
Bald füllte sich Matthäus’ Haus mit seinen Kollegen aus den Zollstationen. Auch eine bunte Mischung von zwielichtigen Typen aus der ganzen Stadt war da. Die Rahabs, Batsebas, Judas und Davids von Kafarnaum wollten sich diese einzigartige Feier der Gnade nicht entgehen lassen.
So saß der Rabbi Jesus mit seinen Schülern unter dem »Abschaum« der Gesellschaft und sie aßen und tranken zusammen. Für die Jünger kostete es sicher eine gehörige Portion Überwindung, mit all diesen »Sündern« zu essen. Sie wurden »unrein«. Jesus, Gottes Gerechtigkeit, feierte mit Leuten, die alles andere als gerecht waren.
Matthäus’ Haus wurde zu einem Ort der Gnade. Gott begegnete auf Augenhöhe den Menschen, die Versöhnung brauchten. Jesus, der Mensch gewordene Gott, fühlte sich sichtlich wohl, wenn ihn Menschen umringten, die ein falsches Gottesbild vor Augen hatten. Denn sie brauchten dringend eine Brücke zurück zu dem wahren Gott, eine Brücke, die nur die Gnade bauen konnte.
Doch nicht alle empfanden so wie Jesus.
Während im Haus von Matthäus eine Art Gottesdienst gefeiert wurde, standen die frommen Religionswächter draußen vor der Tür. Gesetzeslehrer. Pharisäer. Die »Guten« eben. Selbst wenn man sie eingeladen hätte, wäre es ihnen im Traum nicht eingefallen, das Haus eines Sünders zu betreten. Damit hätten sie sich doch rituell verunreinigt.
Wer mit einem Sünder wie Matthäus in Berührung kam, musste sich danach stundenlang waschen. Für den frommen Juden waren Sünder wie eine ansteckende Krankheit. Nun standen sie da in Gruppen zusammen, warfen missbilligende Blicke auf die Partygesellschaft und fragten einige der Jünger empört:
»Wie kommt euer Meister dazu, mit solchem Abschaum zu essen?«
Matthäus 9,11; Neues Leben. Die Bibel, 2024
Die Gott am besten kennen sollten, hatten ein Problem damit, dass der Mann, der vorgab, von Gott gesandt zu sein, sich mit solchen Menschen abgibt. Es war doch unstrittig, dass Gott diese Leute nicht ausstehen kann. Was Jesus tat, passte nicht zu ihrem Gottesbild.
Als Jesus von den Vorwürfen hörte, die die religiöse Elite draußen vorbrachte, antwortete er:
Es ist so: Die, die gesund sind, brauchen keinen Arzt, sondern die, die krank sind!
Matthäus 9,12; Das Buch, 2022
Jesus ließ sich zunächst auf ihr Denkmuster ein. In diesem Bild hielten die Frommen sich für die Gesunden. »Sünder« waren dagegen krank.
Dann zitierte Jesus einen Satz aus dem Alten Testament, Hosea 6,6, der den fromm Tuenden in den Ohren gedröhnt haben muss:
Ich will, dass ihr barmherzig seid; eure Opfer will ich nicht.
Matthäus 9,13; Neues Leben. Die Bibel, 2024
Ist dir die Tragweite dieser Aussage bewusst? Gott will, dass wir Gnade weiterreichen. Regeln und fromme Rituale, was wir eben als »Glauben« bezeichnen, führt nicht zu Gotteserkenntnis. Mit religiösen Konstrukten verfehlt man Gottes Absicht.
Jesus formuliert dann seine Aufgabe in einem Satz:
Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Matthäus 9,13; Zürcher Bibel, 2007
gebraucht die Begriffe »Gerechte« und »Sünder« in diesem Zusammenhang sicher in polemischer Weise.
Die Langfassung seiner Aussage:
»Ich bin nicht gekommen, um Leuten Honig um den Bart zu schmieren, die sich selbst für gerecht halten.
Ich bin da, um denen Gottes Gnade zuzusprechen, die bekennen, dass sie Sünder sind. Wer sich selbst Gerechtigkeit bescheinigt, ist außen vor.«
An dieser Stelle werden wir mit einer erstaunlichen und vielleicht unbequemen Wahrheit konfrontiert:
Gnade ist eine befreiende Einladung für den Ungerechten.
Gnade ist eine ernsthafte Bedrohung für den Selbstgerechten.
Jesus ruft Menschen in die Nachfolge. Geht der Mensch darauf ein, erlebt er eine tiefe Gemeinschaft und er weiß:
Gnade verdient man sich nicht;
sie wird einem als Geschenk angeboten.
Diese Idee ist nicht neu. Sie stammt aus dem Garten Eden.
Durch die Menschheitsgeschichte hindurch – bis heute – ist die einfache Botschaft von Gottes Gnade immer wieder unter einem Berg von komplizierten Religionsvorschriften begraben worden. Seit Anbeginn haben sich die Menschen Regeln ausgedacht, durch die sie einen angeblich zornigen Gott gnädig stimmen wollten. Sie hofften, dadurch in Gottes Gunst ganz nach oben rutschen zu können.
Gottes Widersacher hat ganze Arbeit geleistet, unseren Blick dafür zu vernebeln, dass Gott Liebe und für uns ist.
Gott bietet uns aus Gnade Versöhnung an. Und Gnade ist ein Geschenk!
In den Jahren, in denen Matthäus mit Jesus durch Palästina wanderte, wurde es für ihn immer klarer, dass sein Rabbi Gottes personifizierte Gnade war.
Er war dabei, als Jesus die Unberührbaren berührte.
Er hörte, wie Jesus den Menschen Heil zusprach, die über den Rand der Gesellschaft gestoßen worden sind.
Er erlebte, wie Jesus Wunder an Menschen vollbrachte, die es aus Sicht der Frommen nicht verdient hatten und die ihm nichts zurückgeben konnten.
Matthäus und seine neuen Freunde zogen mit Jesus von Ort zu Ort. Dabei erlebten sie allerdings auch, dass es etwas gab, was Jesus zum Zorn reizte: Das war die gnadenlose Religion. Mit Rom, der Besatzungsmacht, lag er niemals im Streit.
Mit den Pharisäern, den Sadduzäern und den Gesetzeslehrern jedoch – denjenigen eben, die Gottes Gnade mit Israel am besten kennen sollten – gab es eine Menge Reibereien.
Diesen Menschen war die Aufgabe anvertraut, Israels Geschichte zu bewahren. Und sie sollten weitererzählen, wie Gott in die Geschicke des Volkes eingegriffen hatte. Sie waren dafür verantwortlich, dass Israel Gottes Gegenwart und Gnade verinnerlichte und niemals vergaß.
Doch sie hatten versagt. Unter ihrer religiösen Führung hatte sich eine Form des Judentums herausgebildet, in dem es keinen gnädigen Gott gab. Und diese gottlose und gnadenlose Religion machte Jesus wütend.
Der Konflikt mit der religiösen Elite in Israel führte dahin, dass sie ihn schließlich verhafteten, verurteilten und kreuzigten. Sie nutzten die Macht der Römer, ihrer Erzfeinde, zu ihrem Vorteil, brachen ihre eigenen Gesetze und brachten die Stimme der Gnade zum Verstummen.
Doch nur für einen Augenblick.
Matthäus hatte bei all diesen Ereignissen einen Platz in der ersten Reihe. Er war da, als Maria und ihre Begleiterinnen vom leeren Grab berichteten. Er durfte den auferstandenen Jesus sehen, berühren, mit ihm essen. Und er schrieb auf, was er mit Jesus erlebte.
Sein Evangelium rückt die Botschaft der »Gnade für die ganze Welt« ins Rampenlicht. Sein Evangelium endet mit einem »Lockruf der Gnade!«:
Deshalb geht hinaus in die ganze Welt und ladet alle Menschen ein, mir nachzufolgen. Und taucht sie ein in die Vollmacht, die vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist verliehen wird.
Nach Matthäus 28,19-20
In die ganze Welt. Die Botschaft der Gnade gilt jedem.
Was Matthäus jedoch vielleicht am meisten am Herzen lag, lautete: »Ladet alle Menschen ein, mir nachzufolgen.« Genau das hatte Jesus mit ihm getan. Die Verwandlung von einem Steuereintreiber in einen Jesusnachfolger hatte nicht mit einer Drohung begonnen, sondern mit einer Einladung.
Die Spannung zwischen den religiösen Menschen und denen, die ihre Beziehung zu Gott anders leben, hörte mit Jesus Kommen nicht auf. Es gibt sie bis heute. Daher möchte ich dich zu fragen: »Zu welcher Seite neigst du?«
Wenn »Matthäus« dich zu seiner Party einladen würde, wäre dir das peinlich?
Wäre dein erster Impuls, »nein« zu sagen?
Irritiert es dich, dass Jesus mit Sündern Gemeinschaft pflegte, statt sie mit ihren Sünden zu konfrontieren?
Beunruhigt es dich, dass Jesus die Sünde ja in gewisser Weise geduldet hat, indem er sie nicht gleich verurteilte?
Oder neigst du zur anderen Seite?
Meinst du, dass du dein Leben erst in den Griff bekommen musst, bevor du in Jesus Gegenwart kommen darfst?
Schämst du dich vor ihm?
Stehst du in der Versuchung, draußen zu bleiben? Vielleicht mit der Hoffnung, einen Blick auf ihn werfen zu können, dabei aber jeglichen Augenkontakt zu vermeiden?
Schließlich kennst du dich genau. Du weißt, wer du bist und wen du vorgibst zu sein.
Wagst du es, mit diesem Ballast in die Gegenwart von Gottes Gerechtigkeit zu gehen?
Man wäre doch verrückt, wenn man sofort losliefe? Oder?
Höchstwahrscheinlich finden wir in jedem von uns beide Seiten. Bei gewissen Leuten oder Verhaltensweisen neigen wir dazu, zu verurteilen. Bei anderen Gelegenheiten erlegen wir uns selbst eine Auszeit auf und verbannen uns aus Gottes Gegenwart ins selbstgewählte Exil.
In beiden Fällen gehen wir jedoch auf dem ausgetretenen Pfad der gnadenlosen Religion. Denn im Grunde handelt es sich um zwei Seiten derselben Medaille: »Ich bin etwas Besseres« und »Wenn ich mich genug anstrenge, werde ich es auch«.
Matthäus, der Jesus begleitete und beobachtete, sagt uns: Es gibt noch einen dritten Weg.
Jesus ist der Weg! Der Weg der Gnade.
Gnade ist ein Geschenk, wir können sie uns nicht erarbeiten.
Gott hat die Welt mit sich versöhnt.
Jedem Menschen gilt dieses Angebot, ganz gleich, wer er auch sein mag.
Wenn du dich also selbst dabei ertappst, wie du heute jemand anderen verurteilst und morgen dich selbst, dann ziehe die Notbremse.
Halte inne und denke daran:
Ich kann gar nicht gut genug sein.
Ich muss es auch nicht.
Gut genug ist allein Jesus – das reicht für mich!
Das ist Gnade. So ist Gott!